Was tun, wenn der Glaube nicht mehr passt?

Was machst du gerade in diesem Moment? Hast du dir eine Tasse Kaffee eingeschenkt und gönnst dir mit einem wohligen Seufzer eine Pause auf deinem Lieblingssofaeck? Oder sitzt du in der Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeit?

In solchen Pausen scrolle ich oft hypnotisiert durch meinen Instagram-Feed. Danach fühle ich mich nicht erholter, sondern leerer und gestresster. Ganz anders geht es mir, wenn ich in Ruhe einen Blog-Artikel lese. Oder einen Abschnitt in einem Buch. Und dann verdaue ich das Gelesene in Ruhe. Zusammen mit dem letzten Schluck lauwarmen Kaffee.

Es gibt soviel Gutes in den Weiten des Internet – auch auf Instagram – aber der Mensch kann nur begrenzt mit weitem Herzen und Aufmerksamkeit konsumieren.

Deshalb lade ich dich ein, meinen heutigen Blogpost ganz in Ruhe zu lesen. Ihn wirken zu lassen.

Puh. Lange Einleitung. Jetzt komm endlich zum Thema, Veronika!

Ok.

Vor zwei Wochen habe ich eine kleine Blogreihe mit dem Thema Nr. 1 gestartet:

Vor vielen Jahren zweifelte ich nicht nur am Glauben, sondern auch an mir selbst: Bin ich – “rebellisches”, hinterfragendes Ich – das Problem? Mit der Zeit jedoch stieß ich auf immer mehr Gläubige , denen es ähnlich erging. Was für eine Befreiung, als ich erkannte, dass ich gar nicht allein war! Dass gar nicht ich das Problem war.

Sondern gewisse Glaubenssysteme.

Was mir auf meiner Glaubensreise seit damals unglaublich geholfen hat, sind Menschen, die ähnliche Prozesse durchmachten und bereits einige Schritte weiter sind. Einer davon ist der Pastor, Podcaster und Buchautor Martin Benz. Spezialist für “Glaubensumzüge”.

Ich profitiere von seiner theologischen Weiterentwicklung seit Jahren. Hör mal in seinen Movecast rein. Oder lies sein neues Buch “Wenn der Glaube nicht mehr passt
Er besitzt die Gabe, in aller Kürze das Wesentliche gut verständlich, theologisch fundiert und unterhaltsam zu sagen.

Vor zwei Wochen traf ich mich mit ihm zum Interview. 

Veronika: Warum ist dir das Thema des Glaubensumzugs so wichtig?

Martin: Ich wurde in meinem Leben mit Brüchen konfrontiert, wo ich gemerkt habe: Warum funktioniert der Glaube nicht so, wie er funktionieren sollte? Warum klaffen mein Leben und mein Glaube so weit auseinander? Als Theologe habe ich mich an die Bibel gewandt, um Antworten zu finden. Und die Antworten, die ich fand, habe ich in meine Predigten eingebaut. 

Das gab eine große positive Resonanz und deshalb habe ich 2016 dann meinen Podcast gestartet, der ein Umzugshelfer für diejenigen ist, die in ihrem Glauben nicht mehr zu Hause sind. 

Veronika: Ich bekomme ganz oft die Frage gestellt: Wie soll ich denn die Bibel verstehen? Darf ich denn die Bibel überhaupt auseinandernehmen? Da steht doch alles schwarz auf weiß. Aber so klar ist es anscheinend doch nicht. 

Martin: Ja, Christen verhalten sich manchmal so, als ob zu jeder Bibelstelle eine Fußnote mitgeliefert wird, die besagt: „Das ist wörtlich gemeint“, „Das ist bildlich gemeint“, „Das ist historisch zu verstehen“ usw. Aber diese Fußnoten fehlen.

Und am Ende müssen wir bei jedem Vers und Abschnitt entscheiden, wie wir den deuten. Manchen ist das zu kompliziert. Also wird alles über einen Kamm geschert und wörtlich genommen. Oder man versteht die Bibel so, wie es dem geistlichen Milieu entspricht, aus dem man stammt. Wir sind uns aber oft nicht bewusst, dass jede Deutung eine subjektive Deutung ist. Viele nennen sich bibeltreu. Sie sind in Wirklichkeit aber nur einem bestimmten Set an Bibelstellen treu. Nie der ganzen Bibel.  

Ein Beispiel: Nina und ich, ein Geschiedener, wurden ein Paar. Da bekam meine Zukünftige einen warnenden Brief von einer besorgten Freundin, in dem sie eine Bibelstelle aus Matthäus 5,32 zitierte: Man dürfe keine geschiedene Person heiraten, denn das sei Ehebruch. Diese Freundin hat jene Bibelstelle wörtlich genommen. Aber ganz so einfach ist es eben nicht mit dem wörtlichen Verständnis. Denn im selben Abschnitt steht, man solle sich eher verstümmeln als sich zu versündigen. Wo steht jedoch, dass man das eine wörtlich nehmen muss und das andere nicht? Da merkst du: Die Fußnoten fehlen. In dem geistlichen Milieu jener Freundin wurde die Entscheidung getroffen, wie diese Bibelstellen zu verstehen sind. Aber was mich stört: Man verkauft diese Haltung als Bibeltreue und Wahrheit. Da sage ich: Halt! Ihr könnt das gerne so glauben, aber verkauft es bitte nicht als die Wahrheit, sondern als eure Wahrheit.

Christen können nämlich Weltmeister darin sein, ihre persönlichen Überzeugungen sofort mit der Meinung Gottes gleichzusetzen. 

Veronika: Damit macht man ja den anderen sofort mundtot. Und sät Zweifel. 

Wie hat denn dein Umfeld auf deine Glaubensveränderung reagiert? Ich glaube, dass viele ihre Fragen und Zweifel hinunterschlucken aus Angst, ihr Umfeld zu verlieren. 

Martin: Ich habe damals beschlossen, mit der ganzen Gemeinde einen Weg zu gehen. Zunächst habe ich mein Leitungsteam mitgenommen. Und dann die Gemeinde. Insgesamt ist das gut gelungen. Natürlich gab es auch einige Austritte. In diesem Prozess habe ich mich als Brückenbauer verstanden. Ich sage immer: Sei drei Schritte voraus und du wirst zum Märtyrer, sei einen Schritt voraus und du bist ein Vorbild. 

Veronika: Wir brauchen gute Brückenbauer! Denn ich erlebe, dass sich die einzelnen Glaubenslager teilweise radikalisieren. Auf der einen Seite die fundamentalistisch Konservativen, auf der anderen Seite aber auch die Progressiven. 

Martin: Diese Radikalisierung erlebe ich auch. Auf beiden Seiten. Je mehr Christen sich als progressiv oder post-evangelikal outen, Podcasts hochladen, Bücher schreiben, desto mehr hat die konservative, fundamentalistische Seite den Eindruck, die eigene Position verteidigen zu müssen. Das ist ihr gutes Recht. Womit ich ein Problem habe, ist, wenn man anfängt, sich gegenseitig den Glauben abzusprechen. Das betrifft auch die Progressiven, die manchmal mit einer zynischen, arroganten Haltung auftreten und den Glauben der Konservativen belächeln.

Manchmal ist es von der Dekonstruktion nur ein kleiner Schritt zu Destruktion. Mit so einer Radikalisierung ist wirklich niemandem geholfen. Wenn es soweit kommt, dass man einander nicht mehr zuhören kann und aufhört, lernbereit zu sein, hat man verloren. Deswegen rate ich beiden Seiten: Bleibt lernbereit!

Veronika: Was hast du denn aus deinem Glauben aussortiert?

Martin: Mein fundamentalistisches Bibelverständnis. Eine Lesart der Bibel, als sei alles auf einer Ebene, alles gleich gültig, alles gleich wertig, ohne Entwicklung. Das halte ich für einen völlig falschen hermeneutischen Ansatz, der zu ganz vielen Problemen mit der Bibel führt. 

Und auch mein Gottesbild, das sehr von Gerechtigkeit und Zorn geprägt war. Heute ist mein Gottesbild von Jesus geprägt: Gott ist nämlich nie anders, als er sich in Jesus gezeigt hat. 

Ich habe mich von einem Moralismus gelöst, hinter dem keine Ethik steht. Ich entdecke bei Christen ganz viel Moral im Sinne von Einzelanweisungen: Das darfst du und das darfst du nicht!
Was sind aber die großen Leitgedanken, aus denen ich meine Einzelanweisungen ziehe? Ich möchte die Bibel lesen, damit sie mir eine übergeordnete Ethik liefert und nicht, dass ich aus ihr eine ganze Reihe an Regeln herausziehe. Eine große Ethik befähigt nämlich den Christen, mündig zu werden und zu jeder Zeit gute Moral aus ihr abzuleiten. 

Veronika: Um im Bild des Umzugs zu bleiben: Wie schafft man denn den Umzug von einer Glaubensumgebung in eine andere, ohne unter der Brücke zu landen? 

Martin: Leute, die dekonstruieren, verlassen häufig ihre Gemeinden. Sie tun das nicht aus Spaß. Dekonstruktion fällt ja nicht einfach vom Himmel. Sondern man fängt an zu hinterfragen, weil man in Gemeinden Krankmachendes und Verletzendes erlebt hat. Weil man ein schlechtes Gewissen eingeredet bekommen hat, wo einem Lebensfreude geraubt wurde, wo es eng und rigide war. Da hat man eine ganze Ladung schlechter Erfahrung mit Gemeinde und muss sich im Zuge der Dekonstruktion erstmal herauslösen. Und so landen viele erstmal unter der Brücke, weil es leider nicht viele Gemeinden gibt, die eine Heimat bieten für Menschen, die in diesem Prozess stecken. 

Meine Hoffnung ist es, dass sich Gleichgesinnte zusammentun, in Online Communities, in Hauskreisen. So dass man sich in den Prozessen gegenseitig unterstützen kann und neu Angeeignetes gemeinsam ausprobiert. Ich bin sicher, in den nächsten Jahren werden neue Formen von freikirchlichen Gemeinden entstehen, wo progressive Theologie Platz hat und somit niemand „unter der Brücke“ landen muss. 

Veronika: Was rätst du meinen Leser*innen, die gerade mitten in einer Glaubens-Dekonstruktion stecken?

Martin: Bleib unbedingt lernbereit. Und isoliere dich nicht. Suche dir Umzugshelfer. Das muss nicht zwangsläufig jemand sein, der in ähnlichen Prozessen steckt, sondern einer, der schon weiter ist. Der dir hilft, neue Glaubensinhalte zu entwickeln. Und dir spiegeln kann, wenn du über das Ziel hinausschießt. 

Dir können auch Bücher und Podcasts helfen von Menschen, die bereits weitergedacht haben. 

Du musst auch nicht alle Fragen geklärt haben, bevor du den Glauben wieder wagst. Sondern entdecke, was an diesem Neuen, das du für dich erarbeitest – und wenn es noch so klein ist – begeisternd ist. Das kann dich wieder auf einen konstruktiven Kurs bringen. Da eröffnen sich dann neue Perspektiven. 

Fang also nicht erst dann wieder an zu glauben, wenn du alle Fragen und Themen gelöst hast. 

Das ist und bleibt nämlich ein Lebensprozess. 

Danke Martin für das Interview!

Morgen früh bin ich um 9 Uhr zum Frauenfrühstück in Neubulach (Liebenzeller Gemeinschaft
Auf der Höhe 15). Thema: Roots – Heimat finden in einer entwurzelten Welt

Meine letzte Predigt “Hoffnung leuchtet” kannst du hier nachhören.

5 Kommentare zu „Was tun, wenn der Glaube nicht mehr passt?

  1. Schließe dich jenen an, die die Wahrheit suchen, aber hüte dich vor denen, die meinen, sie gefunden zu haben. Habe den Autor leider vergessen, ist aber einer der wahrsten Sätze, die ich kenne. Lg Karoline

  2. Sorry, das passt dann für mich nicht mehr. Ich bin da eher bei Vishal Mangalwadi, der die alten Schätze wieder entdeckt. Rekonstruktion statt Dekonstruktion ohne Ziel.

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