Guten Morgen!
Ich hoffe, du hattest eine schöne Woche. Eine, die angereichert war mit beglückenden Begegnungen, ausreichend Schlaf und leckeren Snacks. Meine eigene Woche hatte es in sich. Vom Schrecklichen zum Wunderbaren war alles reichlich vertreten. Mein Herz versucht zu verkraften, zu sortieren. Aber davon will ich dir heute nicht erzählen, auch wenn es dich interessieren mag, was los war. Das hat hier jedoch keinen Platz, weil es viel zu persönlich ist und auch andere Personen betrifft, die sicherlich kein Interesse daran haben, ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Ich bin von meinem ursprünglichen Plan, heute nur ein paar Fotos zu posten abgerückt. Jaja, ich weiß. Das wäre schön gewesen, nicht wahr? Ich hole das nächste Woche nach. Versprochen.
Heute ziehe ich meinen feministischen Kampfanzug an, den ich vor einiger Zeit in den Schrank gehängt habe in der Annahme, ich bräuchte ihn nicht mehr.
Ha! Weit gefehlt.
Diese Woche schlugen die Wellen der frommen Onlinewelt hoch. Das Y-Kollektiv des ARD veröffentlichte die Doku „Frau gegen Frau“, in der drei Frauen mit antifeministischen Einstellungen vorgestellt wurden. Zwei davon sind bekannte Influencerinnen der evangelikalen Szene, die in letzter Zeit vor allem von sich Reden machten durch Nähe zum rechten Milieu. Ich will nicht näher auf die Doku eingehen, auch hier keine Namen nennen.
In den Kommentarspalten ging die Schlacht los:
„Heute ist der Feminismus total überzogen, wir brauchen ihn nicht mehr.“
„Aber die Bibel ist da total klar.“
„Frauen sollten sich den Männern unterordnen.“
„Feminismus ist antigöttlich.“
„Was ist überhaupt Feminismus, darunter scheint ja jeder etwas anderes zu verstehen!?“
Vielleicht gehörst du zu denen, die das Geschehen mitverfolgten und nun fürchterlich verwirrt sind und überhaupt nicht wissen, wie sie sich positionieren sollen. Es wäre einerseits so einfach und beruhigend, in einfachen, eindimensionalen Phrasen Zuflucht zu suchen. Aber andererseits spürst du, dass das gewünschte Rollenmodell konservativ-evangelikaler Glaubensrichtungen dir die Luft abschnürt. Aber du hast keine Worte. Und Angst, in eine falsche Richtung zu gehen.
Komm, wir setzen uns gemeinsam hin und ich erzähle dir von meinen Erfahrungen und überhaupt ein wenig vom Feminismus. Warum ich glaube, dass er immer noch notwendig ist. Warum er im Sinne Gottes ist. Und was Feminismus überhaupt ist.
Fangen wir beim Schwierigsten an.
Was ist Feminismus?
Ganz kurzer Abriss (ich will dich nicht langweilen, aber ein paar Grundlagen sollte man kennen):
Es gibt drei Wellen der Frauenbewegung.
Die erste begann bereits Ende des 18. Jahrhunderts und dauerte bis ins 20. Jahrhundert. Ihr haben wir z.B. das Frauenwahlrecht und das Recht auf Bildung zu verdanken. Und nebenbei bemerkt auch die Abschaffung des Korsetts, Gott sei gepriesen.
Die zweite Welle begann in den 1960er Jahren. Und nein, sie ist nicht nur auf das Abtreibungsrecht beschränkt (das ist ein Thema für sich und ich habe damit zu kämpfen). Dieser Welle haben wir die Gleichstellung der Frau und Schutzhäuser für Frauen und die Reform des Ehe- und Familienrechts zu verdanken.
Momentan befinden wir uns in der dritten Welle des Feminismus, die ihren Anfang in den 1990er Jahren fand. Sie ist eine Antwort darauf, dass man den Feminismus als obsolet erklärte, weil man schon alle Ziele erreicht zu haben meinte. Für mich persönlich ist die Sichtbarmachung von Übergriffigkeiten und anhaltenden Benachteiligungen die größte Errungenschaft der letzten Jahre. Das feiere ich!
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich der Feminismus aufgefächert in viele verschiedene Strömungen, die sich teilweile überschneiden oder auch widersprechen. Vom konservativen bis hin zum ökologischen Feminismus ist so ziemlich jede Spielart vertreten. (Jemand verglich das mit der Kirche, in der es auch die verschiedensten Richtungen und Strömungen gibt).
So. Jetzt versuche ich dir das Grundanliegen aller feministischen Strömungen zusammenzufassen, damit wir Licht in diesen Dschungel bringen. Manchmal hilft es, komplexe Dinge auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunterzukochen:
Das Grundanliegen des Feminismus sind die Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit für alle Menschen.
Alle Menschen! Feminismus geht weit über eigene Befindlichkeiten hinaus und nimmt globale Gerechtigkeitsanliegen mit in den Blick. Mir sitzen deshalb all diese Kommentare quer, die brüllen: Ja, früher haben wir den Feminismus gebraucht, aber heute nicht mehr!!
Welche blinde, westlich-weiße Wohlstandsignoranz.
Solange unsere Schwestern in anderen Ländern um Grundrechte kämpfen, solange afghanische Mädchen nicht zur Schule gehen dürfen, solange junge Mädchen grausame Beschneidungen ertragen müssen, so lange Frauen nachts im Dunkel Angst haben müssen, so lange junge Mädchen gegen ihren Willen verheiratet werden, so lange heiratsunwillige Frauen mit Säure attackiert werden, so lange Frauen in Sexsklaverei gezwungen werden, so lange Frauen immer noch unter männlicher Vormundschaft stehen, so lange neugeborene Mädchen zum Sterben vor die Haustür gelegt werden, so lange fast jeden dritten Tag in Deutschland eine Frau von ihrem Partner getötet wird – so lange brauchen wir Kampf für Selbstbestimmung, Gleichheit, Freiheit.
Ja, aber Frauen und Männer sind doch total gleichwertig, das bestreiten wir doch gar nicht. Aber wir sind nicht gleichartig. Männer haben halt ihre Aufgaben und Frauen auch.“
Puh, wie oft hören wir dieses Argument aus der christlichen Ecke.
Auf den ersten Blick klingt das stimmig, nicht wahr?
Aber wir ruhen uns auf dieser Aussage aus. Denn sie stellt nicht die Frage nach der Gleichberechtigung.
Haben wir Frauen tatsächlich die gleichen Möglichkeiten im christlichen Kontext wie die Männer?
Besetzen Frauen in Gemeinden und Verbänden in ausreichender Zahl Positionen oder ist das immer noch die Ausnahme? Herrscht denn nicht immer noch eine unhinterfragte männliche Selbstverständlichkeit von Einfluss und Macht?
Ist denn immer noch Sexismus im frommen Mäntelchen vorhanden und man nimmt ihn gar nicht wahr, weil es schon immer so war?
Werden Frauen ruhiggestellt, in dem man sie in der „Frauenecke“ parkt, aber an wichtigen Entscheidungen haben sie keine Teilhabe?
Wir tun mit tradierten Rollenzuweisungen Frauen wie Männern unrecht. Für manche mögen sie funktionieren.
Wenn du eine Ehe führst, in der du als Mann die Gabe der weisen Führung hast und du als Frau damit zufrieden bist, dich im Hintergrund zu halten – wunderbar. Lebt das ohne Rücksicht auf die Meinung anderer. Feiert, was ihr habt.
Aber was ist mit den Männern, die sich in einer Führungsrolle unwohl fühlen, die sie gar nicht wollen? Sie werden in etwas gezwungen, das sie nicht ausfüllen können und sich letztendlich als ewiger Versager und Schwächling fühlen.
Eine vorherrschende, enge Definition von Männlichkeit richtet bei so vielen Männern Schaden an. Mir blutet das Herz.
Was ist mit den Frauen, die eine Führungsbegabung haben und sich in einem Umfeld wiederfinden, in der sie ihre Persönlichkeit einem Rollenbild zuliebe unterdrücken muss? Was, wenn sie sich von der erlernten Passivität und Fügsamkeit trennen möchte, aber gemeindliche patriarchale Strukturen sie daran hindern? Ich plädiere dafür, dass in Gemeinden wie in der Ehe endlich mit den alten, tradierten Rollenbildern aufgeräumt wird. Dass Männer und Frauen sich auf Augenhöhe begegnen. Dass wir unsere Aufgaben je nach Leidenschaft, Berufung und Begabung einnehmen. Und nicht nach Geschlecht. Herrschaftszeiten!
Ja, aber was ist denn mit der Bibel, Veronika?
Hier liegt die Krux: Wie wir die Bibel verstehen und ihre Worte in die heutige Zeit übertragen.
Wer die Bibel wörtlich zu verstehen meint, wird sich immer gegen Neuerungen wehren. (Diese Gläubigen verstehen aber nie die komplette Bibel wörtlich, sondern nur die Stellen, die ihr ethisch-moralisches Weltbild stützen.)
Ich kann die Bibel aber nur von Jesus her verstehen. Von seinem Wesen, seiner allumfassenden Liebe, von seinem Brechen mit den religiösen, gesetzlichen Eliten. Jesus nimmt das Schwache und Ausgegrenzte in die Mitte und verurteilt das Gesetz an der Stelle, wo es dem Menschen Schaden zufügt.
Ach, und dann sind da noch meine zwei Lieblingsbibelstellen:
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus (Galater 3, 28)
Hier geht es nicht um die Aufweichung der Geschlechter, sondern um die Aufhebung der Hierarchien. Juden und Griechen auf Augenhöhe. Sklaven und Herren auf Augenhöhe. Männer und Frauen auf Augenhöhe. Durch Jesus. Weil er das Niedrige erhöht. Die Kinder in die Mitte holt. Die Frauen ernst nimmt und heilt und beruft. Erst später, in der institutionalisierten Kirche zäunt man die Frauen wieder ein. Thanks for nothing, Patriarchat.
„Ordnet euch einander unter.“ Epheser 5, 21
Dieser Satz wird häufig unter den Tisch gekehrt. Denn voran gestellt sind die Verse, anhand derer man die Frau jahrhundertelang in die Unterordnung zwang. Bis heute in vielen Gemeinden! Aber nur in einer absolut gleichberechtigen Partnerschaft ist diese gegenseitige Unterordnung überhaupt möglich. Hier schwingt eine freiwillige Abwärtsbewegung mit, die alle angeht. Sie ist ein kontraintuitives, ja fast schon antikapitalistisches Gesellschaftsmodell, das uns aber in eine Freiheit führen könnte, von der wir nicht mal zu träumen wagen. Niemand herrscht mehr über den anderen. Weder der Mann über die Frau. Noch die Taliban über das Volk. Noch der Mensch über das Tier. Noch der Reiche über den Armen.
Du hast es bis hierhin geschafft? Gratulation. Ich könnte noch ewig weiterschreiben und ich bin mir bewusst, dass ich das Thema nur angekratzt habe.
Und wie lebst du persönlich deinen Feminismus, Veronika?
Das ist von Lebensphase von Lebensphase unterschiedlich. Ich hatte mich schon in den 90er Jahren als Feministin bezeichnet, weil ich ein Ungleichgewicht spürte, für das ich damals keine Worte hatte. Ich machte mich immer wieder frei von Erwartungen, wie eine Frau zu sein hat. Und dann hatte ich aber auch Phasen, in denen ich genau das Gegenteil tat. Ach, es ist eine lange Geschichte und am besten liest du sie in meinem Buch nach.
Als wir Kinder bekamen, blieb ich zu Hause. Von Herzen gerne. Weil ich ein Freigeist bin, liebe ich es, keinem Arbeitgeber unterstellt zu sein, sondern das Leben hier zu Hause gestalten zu können. Ich glaube nämlich sehr wohl, dass man zugleich Feministin und Hausfrau sein kann, ohne die Augen vor den damit einhergehenden Ungerechtigkeiten zu verschließen. Für mich ist meine Tätigkeit in Haus und Garten auch ein Akt ökologischen Widerstandes. Aber dazu kannst du mehr in meinem anderen Buch lesen….
Ich weise immer wieder auf Missstände hin – besonders in der christlichen Welt. Ich predige, halte Vorträge, schreibe, mache den Mund auf. Auch wenn ich müde bin. So müde. Weil sich die Dinge nur langsam ändern. Und weil eine ganze Generation junger Mädchen an den Lippen antifeministischer, fundamentalistischer Influencerinnen hängt.
Und letztendlich bin ich Feministin wegen meiner Töchter. Das ist mein Hauptgrund. Sie sollen weniger Hürden nehmen müssen, sie sollen ein positives Selbst- und Körperbild entwickeln, sie sollen sicher vor männlichen Übergriffe sein. Sie sollen sich nie rechtfertigen müssen für ihre Berufswahl, für ihre Partnerwahl, für ihr Aussehen, für ihre Persönlichkeit. Sie sollen sich nicht zerreiben müssen zwischen Haushalt, Kindern, Erwerbstätigkeit und allen Ansprüchen, die man an Frauen heranträgt und die Frauen an sich selbst stellen.
Wegen euch beiden, meinen geliebten Töchtern, bin ich Feministin. Und wegen Jesus.

Wenn du dich vertiefen möchtest, empfehle ich dir folgende Lektüre:
- Haha, natürlich an erster Stelle mein eigenes Buch: Problemzone Frau
Darin findest du einen Querschnitt durch mein Leben und einige Antworten auf theologische Fragen. Und Erfahrungen mit Körperfeindlichkeit, MeToo, Sexismus und ganz viel Liebe für Frauen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen: von der Hausfrau bis hin zur Führungskraft. - Endlich Gleich von Veronika Schmidt. Absolute Leseempfehlung. Ein brennendes, kluges Plädoyer, das sich fantastisch liest.
- Jesus Feminist von Sarah Bessey. Das war das erste Buch, das mich mit jesuanischem Feminismus in Berührung brachte. Ich liebs bis heute.
- Warum Eva keine Gleichstellungsbeauftragte brauchte von Annegret Braun
- The liberating truth – How Jesus empowers women von Danielle Strickland
- Unsichtbare Frauen von Caroline Criado Perez
Liebe Veronika.
Wie schön, dass du Worte findest für meinen Ärger in dieser Woche. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie du mein eigenes Gedankenchaos sortiert aufs (digitale) Papier bringst.
Als ich nach meiner Dekonstruktion tatsächlich den Glauben an Gott ganz aufgegeben habe, habe ich leider auch mein Recht, in der christlichen Welt noch Gehör zu finden, aufgegeben. Umso wichtiger finde ich, wenn auch die Christinnen laut sind und sich nicht länger unter verkrusteten Strukturen gefangen halten.
Mach weiter so! Ich hoffe, du findest noch viel Gehör!!
Wundervoll! Ich liebe jedes Wort, das du hier geschrieben hast für uns: die Weisheit. Deine Gründlichkeit. Deine Mühe. Dein Herz hinter den Worten. Deine Leidenschaft. Deine Demut. Deine Reflektierheit. Du packst in Worte udn hilfst sprachfähig zu werden. Von Herzen Danke!
Du sprichst mir aus dem Herzen . Soooo wahr 👍❤️
Danke! Wie immer bringst du es auf den Punkt. Ich habe darüber bis zu der Dokumentation nicht tiefer drüber nachgedacht, bzw. habe mich letztens spaßeshalber durch einige neue Ansichten als „angegehende Feministin“ bezeichnet. Nun weiss ich, das sich wahrscheinlich wirklich eine bin. Das macht mich fast etwas stolz. Die Rebellin kommt durch! Ich tauche nun tiefer in das Thema ein. Danke für deine Erklärungen und deine Offenheit. Das hilft, denke ich, nicht nur mir extrem viel und gibt mir Mut auch aufzustehen.
Danke, dass du uns hier so eine tolle Zusammenfassung und Einordnung gibst! Werde es gleich mal kräftig teilen… 😀
Liebe Veronika, deine reflektierte Art zu schreiben ohne dabei dein Herz nicht auch immer mit in den Zeilen pochen zu hören, dass mag ich so sehr. Ohne großen Fingerzeig sondern mit einer Tiefe und Innbrunst schreibst du, was Gott sei Dank auch viele Christinnen denken. Ich habe erst heute um die Diskussion und Dokumentation erfahren. Ansehen konnte ich es mir nicht, folgen konnte ich der einen noch nie, der anderen schon lange nicht mehr. Diese Blindheit und Allwissenheit die mir entgegenschlägt ist nur ein weiterer Ausdruck ihrer Selbstdarstellung und gelebter Unsensibilität. Das du hier so offen schreibst und am Ende die Stärke besitzt weiterzukämpfen, dass ermutigt mein kleines, traurig zuschauendes feministisches-Herz, dass oft genug glaubt, dass alles Kämpfen von denen die vor uns da gewesen sind, sinnlos war, zu neuen holprigen Hoffnungs-schlägen. Danke. ♡