Von Lebensbrüchen und Marmeladengläsern

Die Passionswoche hat sich wie jedes Jahr durch die Hintertür angeschlichen. Ganz anders als ihre Verwandte – die Adventszeit – die jedes Jahr mit einer lauten Glitzerparade gefeiert wird. 

Als die Kinder kleiner waren, hatten wir festere Traditionen. Aber alles ist in stetiger Veränderung, immer im Fluss und so wurden einige der liebgewonnen Traditionen hinweggeschwemmt und wir folgen nur noch einer losen Passionswochen-Liturgie, umrahmt von Eierfärben und Osterplätzchenbacken. Auf den heutigen Abend jedoch freue ich mich ganz besonders. Ein Gründonnerstags-Abendmahl in der Kirche. Ein echtes Mahl an langen Tischen mit Essen und Reden und Lachen. Dann morgen früh der Gang vom Friedhof zur Kirche. 

Und zwischendrin findet der Frühjahrsputz statt. Bei so einem großen Haus und Garten ist der gefühlt nie abgeschlossen, aber im Frühjahr ist die Motivation am größten. Der Putz selbst ist nicht das Schwierige, sondern das Anfangen. Aber jetzt bin ich mittendrin und verabschiede mich gerade von mindestens zwei Dritteln meiner Marmeladengläser-Sammlung, die mit den Jahren eine beachtliche Größe erreicht hat. 

Josefine hat ein neues Hobby entdeckt: Das Nähen. Sie näht, bis die Nadel glüht und plündert meinen Stoffschrank und schwatzt ihrem Vater eine alte Jeans ab, damit sie aus ihr Kuscheltiere gestalten kann. Ich feiere es so sehr. Seit Tagen trägt sie ihre neue Handtasche spazieren, die sie in ihrem Nähkurs gestaltet hat.

Im Garten passiert noch nicht viel. Der Frost grätscht in meine Pläne. Aber die Natur lässt sich nicht davon abhalten, ihre vielen Wildkräuter zu produzieren. Meine  Wildkräutersuppe steht wieder wöchentlich auf dem Speiseplan und enthält Bärlauch, Schnittlauch, Löwenzahn, Scharbockskraut, Giersch, Sauerampfer, Spitzwegerich und Brennnesseln. 

Dieser Tage denke ich darüber nach, dass Veränderung ein steter Prozess ist und sich vor allem in der Lebensmitte gravierender als sonst anfühlen kann. Da ist ein Körper, den man früh nach dem Aufwachen neu zusammensetzen muss, egal wieviel Yoga man macht. Da sind die vielen grauen Haare und die Überlegung: Färben ja oder nein? Da ist der Wechseljahre-Bauch, mit dem man sich anfreunden sollte, denn er wird so schnell nicht mehr gehen. Freundschaften und Beziehungen innerhalb der Familie verändern sich. Manche werden überraschend enger. Andere zerfransen schmerzhaft. Da lässt man Dinge und Ideen los. Sowie ich meine Vorstellung loslassen muss, jährlich hundert Gläser Marmelade einzukochen. Es werden doch nur immer 20 Gläser und die restlichen 80 Gläser erinnern mich jedes Jahr an mein vermeintliches Versagen. Deshalb kommen sie weg. Loslassen, damit sie mir kein schlechtes Gewissen mehr machen und Raum für Neues wird. 

Da habe ich plötzlich Lust auf normale Erwerbsarbeit, denn ich habe alles in meinen Büchern gesagt, was ich momentan zu sagen habe. Was soll ich noch mehr schreiben? 

Da haben wir eine Glaubensgemeinschaft verlassen und unsere Theologie hat sich verändert. Sie durfte sehr viel weiter werden. 

Heute früh habe ich bei Nadia Bolz-Weber gelesen, dass uns Nostalgie – egal ob süße oder bittere Erinnerungen – an einer Vorwärtsentwicklung hindert. Das ist eine bittere Pille, die dieser vergangenheitsorientierte Nostalgiemensch (Ich!) schlucken muss. Aber vielleicht ist das eine der großen Lektionen, die ich in der Lebensmitte lernen darf. Da kommt noch was. Und ich kann es nur empfangen und geduldig darauf warten, wenn ich die Hände öffne und Frieden mache, mit dem was war und vor allem mit dem, was nicht war. 

Das Loslassen und die Offenheit für Veränderung erinnern mich an Karfreitag. Dieser Tag, von dem damals die Jünger und Jüngerinnen dachten: Das war’s also. Ich habe mich getäuscht. Viele gingen zurück in ihre Heimat. An ihre alten Arbeitsstellen mit bittersüßen Erinnerungen im Gepäck, die wie ein Stachel im Fleisch saßen. Die drei Jahre mit Jesus nur noch ein fernes Echo, dem man bis ans Lebensende mit anschwellender Nostalgie hinterher trauern würde. 

Die zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus. So sehr mit ihren Erinnerungen und ihrem Schmerz beschäftigt, dass sie nicht sehen konnten, was sich vor ihren Augen abspielte.

Die Brüche des Lebens sind Brücken in die Zukunft. Wir betreten sie widerwillig, weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist und Veränderungen gegenüber skeptisch ist. 

Wir wollen die guten Zeiten konservieren. Einkochen wie Marmelade. Uns ins Regal stellen und immer wieder davon kosten. Aber irgendwann sind die Gläser leer. Und das ist das verrückte göttliche Versprechen: Sie werden sich wieder füllen. Vielleicht mit anderen Zutaten. Vielleicht werden es dieses Jahr nicht 25 Gläser, sondern nur fünf. 

Das ist die Hoffnung, die wir haben: Dass Veränderungen nicht der Tod sind und dass sie nicht das letzte Wort haben. Dass sie sogar notwendig sind, damit sich das Leben weiterentwickeln kann. 

Aber weißt du was? 

Was sich nicht verändert, ist die Freude über den Frühling. Über die Auferstehungskraft und die Tulpenpracht im Garten. Was sich nicht verändert ist die Vorfreude auf Ostern. Auf die Rückkehr des Lichts. Was sich nicht verändert ist der tiefe Friede, der echte Gemeinschaft mit sich bringt. Da gibt es immer noch Lagerfeuer im Garten und den ersten Salat aus dem Frühbeet. Da gibt es immer noch laute 90er Jahre Musik (Hallo Nostalgie!) in der Küche und spontanes Kaffeetrinken mit Freunden. Da gibt es immer noch gute Bücher und Gedichte und Partys. Da gibt es immer noch Katzen auf Bettdecken und Schlüsselblumen am Wegesrand und warmes Brot aus dem Ofen und Umarmungen und Neuanfänge. Da gibt es noch die alten Geschichten, die wir uns jedes Jahr wieder erzählen, weil wir nicht anders können. Denn sie geben uns Halt und Hoffnung.

Ich wünsche dir, dass du darüber staunen kannst, was in deinem Leben gewachsen ist. 

Ich wünsche dir Mut, Altes loszulassen, so dass Raum für Neues wird. 

Ich wünsche dir ein pralles, volles Leben trotz Brüche. 

Ich wünsche dir ein Osterfest, an dem du Auferstehungshoffnung erfährst und spürst. 

5 Kommentare zu „Von Lebensbrüchen und Marmeladengläsern

  1. Ach wie brauche ich deine Worte gerade. Wie tun sie gut. Die letzten Wochen waren vollgestopft mit Veränderungen: der Verlust zweier vierbeiniger Weggefährten, ein ausgebrannter Camper, die Chemo, die nicht anschlägt, …
    Und dennoch: Auferstehungsglaube, Lebendigkeit trotz und mit den Brüchen. Danke dafür.
    Segenregen Kerstin

    1. Liebe Kerstin, es tut mir von Herzen leid, was du gerade durchmachen musst. Dass sind Veränderungen, die man sich im Lebtag nicht aussuchen würde. Ich wünsche dir ganz viel Trotz-Kraft und vor allem Genesung!! Sei gesegnet
      Veronika

Kommentar verfassen