Zerbrochene Ringe und löchrige Schals

Gestern ist mein Ring zerbrochen. Im Rewe. An der Kasse.

Ich beugte mich nach vorne, um aus dem Einkaufswagen Salat und Quark und Rote Grütze aufs Kassenband zu laden, blieb mit dem Ring hängen und er zerbrach am dünnen Silberband in zwei Teile. “Klick-klack” kullerten Stein und Band auf den Boden. Ich starrte den zerbrochenen Ring einige Sekunden fassungslos an.

So endet er also?

Hier im kränklichen Licht eines anonymen Supermarkts?

Er hatte meiner Großmutter gehört und überlebte als einer der wenigen Gegenstände die Flucht aus Schlesien. Kein russischer Soldat fand ihn.

Der zerbrochene Ring war der letzte sprichwörtliche Tropfen im übervollen Fass. Ich hatte keine gute Woche. Und überhaupt keinen guten Tag. Manchmal kommt gefühlt alles auf einmal plus verstopfte Waschbecken und überhaupt: Warum kostet ein viertelgefüllter Einkaufswagen plötzlich soviel wie ein Kleinwagen?

Ich hatte zu viel Zeit auf Social Media verbracht, spürte dystopische Beklemmungen und mir gefielen die Verkaufszahlen meines neues Buches ganz und gar nicht. Es kamen Dinge in mein Leben gerauscht wie scharf geschossene Tennisbälle. Es erforderte Kraft, ihnen standzuhalten und nicht umzukippen.

Ich versuchte keine Symbolik in den Zerbruch des Ringes hineinzulesen. Aber traurig war ich. Sehr. Denn der Ring begleitet mich nun schon eine ganze Weile und erinnert mich an die Kraft meiner Vorfahrinnen. In jeder schwierigen Situation reibe ich über den alten hellblauen Stein. Nein, das ist keine esoterische Handlung und ich glaube auch nicht an Edelsteinkräfte. Aber ich glaube an die Kraft von Symbolen. Und der Ring symbolisiert Resilienz.

Mein Ringfinger fühlt sich nackt an.

Gestern war auch der Tag, an dem nach acht Wochen endlich die Samen aufgingen, die ich aus Toronto mitgebracht hatte. Anfang Januar hatte ich sie in Anzuchtschalen gedrückt, gegossen, beobachtet, in die Sonne gestellt. Während andere Samen aufgingen und seitdem üppig wachsen, blieben die “Toronto-Schalen” wüst und leer. Ich hatte wohl tote Samen mitgebracht. Mich umsonst gemüht. Ich war kurz davor, die Töpfchen mit anderen Samen zu bestücken. “Die Warterei lohnt nicht”, grummelte ich. Ich stellte das Gießen ein. Und just als ich sie ausleeren wollte, entdeckte ich einen winzigen Keimling. Noch nie habe ich mich so sehr über neues Grün gefreut. Dann kam noch einer zum Vorschein, als hätten sie sich heimlich verabredet. Manchmal lohnt es sich zu warten bis etwas wächst, das man bereits aufgegeben hat.

Ich holte die Tomatensamen hervor. Und all die Blumensamen, die ich gesammelt habe. Ich füllte weitere Anzuchtschalen. Und träumte mich nach vorne in den Sommer hinein. Kein Zentimeter meines Gartens soll unbedeckt bleiben. Ich säe und pflanze, weil ich nicht anders kann. Es gibt mir Hoffnung. Einen Zweck. Einen Glauben.

Ich möchte mir Siebenmeilenstiefel anziehen, über alles im Eiltempo hinwegschreiten, was mühsam und frustrierend ist. Immer eine Lösung parat haben. Ein Ergebnis vorweisen. Einen Plan erstellen, der mich sicher ans Ziel führt. Sowie meine Strickanleitungen, die mir genau sagen, welche Masche ich als nächstes stricken muss. Ich halte mich an die Anleitung und bekomme genau das Ergebnis, auf das ich hingearbeitet habe. Deshalb liebe ich das Stricken. Es gibt mir das Gefühl von Kontrolle. Und Ruhe.

Aber ich kann kein fehlerfreies Leben handarbeiten. Ich habe Wolle und Nadeln, um meine Tage und Wochen und Jahre zu stricken. Und ich wurstele mich durch. Das Ergebnis sieht aus wie der Schal, den ich mit acht Jahren strickte. Meine Verkrampfung übertrug sich auf das Strickbild. Die Maschen waren betonhart. Ich strickte Löcher, wo keine Löcher hingehörten. Ich ließ Maschen fallen und fand sie nie wieder. Ich kombinierte unmögliche Farben miteinander.

Aber weißt du, Gott nimmt unser stümperhaft gestricktes Leben in die Hände. Er ist keine strenge Handarbeitslehrerin, sondern eine liebende Mutter, die weiß, dass wir wenig Begabung dazu haben, ein gelungenes Leben zu führen. Und trotzdem traut sie es uns zu. Weiterzustricken. Großzügig Maschen anzuschlagen. Sie wieder fallen zu lassen. Löcher zu stricken. Und mutig Farben aneinanderzureihen. Sie jubelt mit uns über jede gelungene Reihe. Und ganz am Ende, wenn wir abketten, nimmt sie den krummen, bunten Schal und legt ihn sich stolz um den Hals.

3 Kommentare zu „Zerbrochene Ringe und löchrige Schals

  1. Vielen Dank für den Text! Er hat mir direkt in die Seele gesprochen und mir geholfen, ein paar Tränen zu weinen, die längst überfällig waren, ans Tageslicht zu kommen. ♥️

  2. Wenn der Ring solch eine Wichtigkeit weil Symbolkraft hat und etwas sehr Liebgewonnenes ist, kann man ihn ja löten lassen 😀

  3. Das ging mir ähnlich. Heute war so ein vermurkster Tag, vorallem in meinem Herzen. Dein Text war tröstlich irgendwie. Und Dein Buch schenke ich einer lieben Freundin zum Geburtstag. Danke!

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