




Am 6. Dezember kam zu uns früher der Nikolaus. Nicht der falsche Weihnachtsmann mit rotem Mantel, sondern der echte Heilige. Mit goldenem Buch und langem, dunklen Mantel und natürlich mit dem Sack. Der erschrak mich zu Tode, hatte ich doch gelernt, dass in jenen die bösen Kinder gesteckt wurden. Ich hatte mich das ganze Jahr über so bemüht, lieb und brav zu sein und doch nagten an mir die Zweifel, ob meine Bemühungen ausgereicht hatten.
Abends saßen wir rund um den Kamin, in dem seit den frühen Morgenstunden ein Feuer prasselte. Ich zupfte nervös an meinen kratzigen Wollstrumpfhosen, die immer etwas zu klein waren. Meine kleine Schwester und ich lauschten nach draußen. Nach knirschenden, schweren Schritten im Schnee, die den gefürchteten und zugleich herbeigesehnten Mann ankündigten. Mein großer Bruder sprang auf, als sei im plötzlich etwas eingefallen. “Ich muss noch einmal kurz in den Stall. Ich habe vergessen das Licht auszumachen.”
Wenige Minuten später polterte es an der Wohnzimmertür. Nikolaus.
Er stampfte sich den Schnee von den Schuhen, die denen meines Bruders verdächtig ähnlich sahen. Die Augen meiner 5-jährigen Schwester hüpften fast aus ihren Höhlen. So groß war ihre Anspannung. Und auch meine. Beide hielten wir die Luft an, denn nun schlug Nikolaus ein dickes, goldfarbenes Buch auf, das er unter dem Arm getragen hatte. Ich wusste: Darin waren alle unsere guten Taten und auch Missetaten niedergeschrieben. Er würde sie vorlesen. Vor der ganzen Familie. Ich überhörte das Lob, welches Nikolaus mit dröhnender Stimme vortrug und atmete ganz flach. Gleich, gleich, würden alle – Mutti, Vati, Schwester, Bruder, Onkel – meine beschämendsten Sünden erfahren: Dass ich diejenige war, die aus Versehen den Fernseher kaputt gemacht hatte. Und dass ich die Süßigkeiten aus dem Schreibtisch meines Bruders gestohlen hatte.
“Nun, ihr lieben Kinder” (Ok, jetzt kommt’s!!!)
“Ihr habt in diesem Jahr viel miteinander gestritten.” (Das sind keine Neuigkeiten....)
“Und ihr müsst euch anstrengen, euch besser zu vertragen.” (Das würde ja besser funktionieren, wenn meine Schwester nicht immer so schwierig wäre…)
“Ihr habt nicht immer auf eure Eltern gehört.” (Manche ihrer Regeln sind dumm und altmodisch.)
“Ihr hättet euren Eltern mehr helfen müssen.” (Hey Nikolaus, du hast sicherlich auch nicht jeden Tag Lust, Eier zu wiegen und zu verkaufen…..)
“Euren Zimmern könnte etwas mehr Ordnung nicht schaden.” (ICH halte Ordnung, aber meine Schwester bringt immer alles durcheinander)
Nikolaus hielt inne, klappte das goldene Buch entschlossen zusammen und bückte sich nach dem Sack. Darin wühlte er demonstrativ eine Weile und holte dann für jeden von uns ein kleines Säckchen heraus, das mit Nüssen, Mandarinen, goldenen Schokoladentalern und Dominosteinen gefüllt war.
Mir rauschte der Kopf vor Erleichterung.
Schnell ratterte ich noch ein Gedicht herunter, mit dem ich den alten Nikolaus und meine Familie milde stimmte. Meine kleine Schwester blieb stumm. Sie hielt ihr Säckchen krampfhaft auf ihrem Schoß. Ihr saß der Schrecken in den Gliedern. Nikolaus verabschiedete sich. “Bis nächstes Jahr, liebe Kinder. Und bleibt immer schön brav.”
Wenige Minuten später kam mein Bruder aus dem Stall zurück. Er hatte sich nicht nur um das Licht gekümmert, sondern es hatte noch “einen Notfall mit einer Legebatterie” gegeben, um den er sich kümmern musste.

Heute, vierzig Jahre später trage ich keine kratzigen Strumpfhosen mehr. Ich habe keine Fernseher auf dem Gewissen und es ist lange her, dass ich meinen Brüdern Süßigkeiten gestohlen habe. Aber brav bin ich trotzdem nicht geworden. Obwohl ich mich immer noch ehrlich darum bemühe. Ich habe meine Abgründe. Und es wäre mir ein Horror, würde sie jemand ans Tageslicht zerren und mit dem Finger darauf zeigen. Ich bin ein Mensch, der unendlich viel Licht in sich trägt. Und ebenso viele Abgründe. Das hat sich seit meiner Kindheit nicht geändert.
Wir brauchen keine gestrengen Nikoläuse und goldene Bücher, aus denen uns unsere Missetaten tadelnd vorgelesen werden. Was wir brauchen ist mitfühlende Ehrlichkeit vor uns selbst gepaart mit einer Gnade, die sich wie eine wohltuende Wundsalbe über unsere Abgründe legt. Und diese Gnade ist das, was ich “ein Hoch auf krumme Zeilen” nenne:
Es gibt das Sprichwort, Gott schreibt auch auf krummen Zeilen gerade. Aber nur, wenn Gott ein pedantischer Deutschlehrer ist.
Ich glaube eher, Gott lässt uns unsere krummen Zeilen schreiben. Und er fügt dann die Fortsetzung hinzu. Kleine Zwischenbemerkungen. Er schreibt das Ende. Dann rahmt er unser „Werk“ ein und hängt es sich stolz an eine Wand, so wie eine Mutter die ungelenken Zeichnungen ihrer Kinder aufhängt und ihr das Herz vor Liebe überfließt, jedes Mal wenn sie es betrachtet. Ein Kunstlehrer würde vielleicht die Note 5-6 geben. Und den kleinen Künstler als hoffnungslosen Fall abstempeln. Und er würde alles rot anstreichen, wo das Kind über den Rand gemalt oder die Perspektive falsch dargestellt hat.
Ich bin sicher, dass jeder von uns seine dunklen Flecken in der eigenen Biographie besitzt. Ganz unabhängig davon, ob du dein Leben mit Jesus oder ohne lebst. Oft ist es sogar so, dass Christen ihre dunklen Flecken besser verstecken. (..)Niemand hat sein Leben wirklich im Griff. Es kann dir in fünf Minuten oder in fünf Jahren entgleiten. Vielleicht ist es dir schon mal entglitten. Vielleicht entgleitet es dir permanent. Vielleicht sind dir deine Ehe, dein Glaube, dein Schlaf, deine Gesundheit entglitten und du suchst händeringend nach Erlösung.
Aber nichts trennt uns je von der Liebe Gottes.
Was auch immer du gerade erlebst oder erlebt hast: Jemand anderes hat Ähnliches erlebt, hat Ähnliches gedacht, gefühlt, darüber geweint und überwunden. Und das wirst du auch. Du verdienst Hilfe und Hoffnung, Annahme und Heilung.
(..)
Es ist besser, krumm auf seinen Lebenszeilen zu schreiben als überhaupt nicht. Also nimm den Stift in die Hand und schreibe ohne Furcht. Du wirst Fehler machen. Willkommen im Club. Gott wird am Ende seine Unterschrift unter dein Werk setzen und es stolz in seiner Galerie aufhängen. Und darüber schwärmen, wie es nur Eltern tun, die in ihre Kinder verknallt sind.
Aus: Hoffnung leuchtet

Es ist mal wieder in der Adventszeit, in der ich die Versöhnung suche. Mit dem, was mir heute nicht gelungen ist: Geduldiger sein mit meinen Töchtern. Entschuldigung sagen. Wahrheiten mutig aussprechen.
Und Versöhnung mit dem, was ich mir zwar zu Anfang des Jahres motiviert in meinen Planer schrieb und dann im Trubel der Monate unterging: Besser kommunizieren. Besser essen. Mich mehr für andere einsetzen. Die beste Mutter und Ehefrau sein.
Meine krummen Zeilen. Ich muss sie nicht ängstlich verstecken aus Angst vor Strafe. Sondern dem hinhalten, der sie entgegennimmt und sagt: Ich weiß.
Ich wünsche dir in dieser Woche, dass du dich weniger alleine fühlst mit deinen Abgründen. Dass sich etwas von Gottes Gnade wie heilender Balsam darüber legt und du weißt, dass ein liebevoller Blick auf dir ruht. Immer.

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Ausgerechnet heute wollte mir jemand mit genau diesem Spruch Mut machen, den Du als Titel gewählt hast. Danke, dass Du meinem etwas finsteren Gefühl dabei die passenden Worte und Bilder geliehen hast! Und mich daran erinnert, den Stift in die Hand zu nehmen. Weil Gott sich auch meine wirren Linien an den Kühlschrank hängt.
Nicht in meinem Leben herumradiert um es passend zu machen.
Sondern unbedingt mein Kapitel im Original in seiner Geschichte haben will.
Das Bild mit den Kinderzeichnungen ist schön. Wenn ich solche mit meinen Töchtern ab und zu wieder anschaue, dann kommen Erinnerungen hoch, wir schmunzeln und stellen natürlich fest, wie sehr wir uns verändert haben und was aus uns geworden ist 🙂 Unsere Biographie bei Gott aufbewahrt, wie schön das doch ist! Liebe Grüsse Brig
Liebe Veronika, danke für deine Ehrlichkeit!
Innere Abgründe… irgendwie kann ich mir oft schwer vorstellen, dass manche Anderen auch solche haben. Obwohl das ja wohl menschlich ist? Irgendwie sind wir alle im Club der Menschen mit Abgrund, hm, lauter “Therapie-Fälle”. Der Ausschnitt aus “Hoffnung leuchtet” hört sich sehr wohltuend an, und die große Hoffnung ist da, dass G*tt tatsächlich am Ende, oder jetzt auch schon, seine Unterschrift unter mein Leben setzt. Ist das nur ein menschlicher Wunschtraum? Liebe Grüße Doro