Versöhnt mit Unfertigkeiten

Zunächst: Ein ganz großes Dankeschön für alle die lieben Gratulationen! Hach, da ging mir das Herzchen auf…..

Nun hat für unsere Familie ein neuer Abschnitt begonnen. Beide Mädchen gehen auf die weiterführende Schule und sind an drei Tagen bis halb fünf aus dem Haus und gehen ihren Lieblingsbeschäftigungen wie Geometrie, Tonleitern und Französisch-Vokabeln nach. Ich reibe mir siegesgewiss die Hände! Neue Zeitfenster! Lange Zeitblöcke ohne Unterbrechung arbeiten! Jeden Tag Sport machen! Stundenlang schreiben!

Ach ja. Ich tappe in die gleiche Falle wie damals, als die Kinder beide im Kindergarten waren. Mir wurde ein freies Zeitfenster von drei Stunden geschenkt. Wie eine Verhungernde stopfte ich alles in diese kurze Zeit, was mir appetitlich erschien. Ich quoll über vor Ideen und Arbeit. Ich war so beschäftigt mit dem hektischen Abhaken von Listen und dem ständigen Blick auf den unbarmherzig vorrückenden Minutenzeiger, dass mich das Gefühl überwältigte, noch weniger Zeit als vorher zur Verfügung zu haben.

Und jetzt, neun Jahre später, ereilt mich ein ähnliches Muster. Obwohl ich mehr Zeit habe, vergeht sie schneller und ich schaffe nicht soviel, wie ich mir vorgenommen hatte. Und das, was mich schafft, ist das Gefühl von Panik.

Ich pflüge nicht wie ein Panzer durch meine To Dos, sondern ich wate durch zähen Honig.

Da warten noch Emails auf Antwort. Bücher auf Versand. Ein Expose auf Fertigstellung. Der Boden will gesaugt werden. Ein Vortrag muss zu Papier. Das Kraut in den Sauerkrauttopf. Die Äpfel ins Geleeglas. Der Körper will bewegt werden. Der Geist auch.

Da fallen manche Emails und Äpfel hinten runter.

Ich denke, hier liegen zwei Probleme vor.

Erstens gleite ich in eine Mangelhaltung ab. Ich wache schon mit dem Gefühl am Morgen auf, hinterher zu sein. Der Mangel sagt mir: Du hast zu wenig Zeit. Du hast zu wenig geschafft. Diese Mangelhaltung treibt momentan seltsame Blüten. Auf Instagram hat sich der #5uhrclub gebildet (Basierend auf dem gleichnamigen Motivationsbuch). Das bedeutet: Man stellt den Wecker auf 5 Uhr und verbringt die erste Stunde des Tages produktiv mit Sport, Tagebuchschreiben, Bibellesen (für die Frommen) und Meditieren.

Das Ziel ist klar: Die Steigerung der eigenen Produktivität.

Das Ergebnis ist auch klar: Man ist für den Rest des Tages verdammt müde.

Unser verzerrtes Verständnis von Effizienz und Produktivität, verleiht uns dieses enge Gefühl in Brust und Bauch, immer drei Schritte hinterher zu sein.

Ich muss mir selbst predigen: Das ist keine Art zu leben. Das ist westlicher, krankmachender Bullshit. Das ist eine Religion, auf dessen Thron die eigene Produktivität sitzt und der ich meinen Seelenfrieden opfern.

Es spricht nichts gegen ein gesundes Maß an Produktivität.

Aber einen übersteigerten Produktivitätsdrang (unter dem ich angeblich leiden soll) erkennst du daran, dass es nie genügt. Egal, was du heute schon gewuppt hast. Dieses nagende Gefühl der Unzulänglichkeit bleibt wie ein schaler Nachgeschmack.

Den Blick will ich mir zurechtrücken. Versöhnung suchen mit allem Unfertigen in meinem Leben.

Was wir dringend brauchen sind Menschen, die in sich ruhen.

Nicht Menschen, die ihre Listen abgehakt haben und ausgelaugt sind, weil sie sich im Namen der Produktivität wertvollen Schlafes berauben lassen.

Und der zweite Punkt:
Ich stopfe meinen Kalender zu voll.

Ich war doch so fest entschlossen, genau diesen Fehler nach Corona nicht mehr zu begehen. Aber diese Fahrspur meines Lebens ist so tief eingegraben, dass die Alltagsräder sich ihre gewohnten Wege wie von alleine suchen.

Aber nur, weil eine Lebensspur so tief eingegraben ist, bedeutet es nicht immer, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Also anhalten. Wegrichtung prüfen. Ein paar schmerzhafte Neins verteilen. Und für den Rest des Jahres keine Termine mehr annehmen und damit einen neuen Weg frei machen auf dem ich mit dem Verstreichen der Zeit versöhnter bin.

Und was stelle ich nun mit dem Rest des Tages an? Jetzt, um 8.14 Uhr? Ich schreibe mir etwas weniger auf meine Liste. Sie soll am Ende des Tages nicht darüber entscheiden, ob ich heute ein besonders produktives Menschlein gewesen bin. Sondern ich entscheide, heute all das Gute, das Schöne, das Gelungene mit Dankbarkeit zu betrachten.

Und mit dem Unfertigen, dem Hinken, dem Unrunden will ich mich ein kleines bisschen mehr anfreunden. Denn das sind eigentlich gar nicht meine Feinde. Sondern gesundes Sand im Getriebe, um nicht einem grenzenlosen Produktivitätszwang anheim zu fallen.

Jetzt ist es 8.22 Uhr. Zeit für eine kleine Pause. Auch für dich.

Vielleicht magst du in dieser Pause ein Video ansehen oder einen Podcast hören?

Buchbesprechung Problemzone Frau

Ein paar weitere Kaninchenvideos meiner Tochter 🙂

Ein wirklich sehenswerter Ted-Talk.

Ein wirklich hörenswerter Podcast über die Würde eines “Ungläubigen”

5 Kommentare zu „Versöhnt mit Unfertigkeiten

  1. In einer Übergangszeit mit vielen Baustellen hat mir jemand einen für mich sehr wertvollen und hilfreichen Rat gegeben: Schau für jeden Tag, was die drei wichtigsten Dinge sind, die Du angehen willst. Wenn Du bei zweien davon weiter kommst, dann ist es auch in Ordnung.

  2. ich finde es sehr gut, wie radikal du Rucksäcke ablegst, die du nicht mehr tragen willst, Veronika!

    Was das Thema nachts aufzustehen um zu beten, meditieren, usw… denke ich allerdings anders.
    Ich habe enge Freunde, die das aus Begeisterung für Gott machen, die ihm genau dort in der Nacht oder morgens um 5 begegnen wollen. Und zwar n i c h t mit dem Fokus auf mehr Leistung, output, outcome, sondern einfach weil sie spüren dass es gut ist.

    es ist keine Zeitverschwendung wenn man sich innerlich hingezogen fühlt, auch den Schlaf zu unterbrechen.

    Ich habe das selbst jahrelang gemacht, weil es mich so da hingezogen hat. Und es war sehr gut so.

    Jetzt habe ich davon Abstand genommen und es ist auch gut.
    Liebe Grüße,
    Ulrike

    Ps: blockierte oder befreite Kreativität hat nix damit zu tun wie jemand glaubensmässig tickt, deshalb finde ich den Kommentar „eines Ungläubigen“ geradezu verstörend

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