Nach vorne träumen

Im vergangenen Juli (erinnert sich noch jemand an warme Sommernachmittage?) saß ich im Garten einer Freundin. Wir kannten uns erst kurz und sie hatte mich zum Tee eingeladen. Die Sonne brannte auf meine Arme, wir kamen aufs Stricken zu sprechen (ein naheliegendes Thema bei 30 Grad!). Ich konnte mein Glück nicht fassen, einem anderen Menschen gegenüber zu sitzen, der diesem langweiligen, langwierigen Hobby mit Enthusiasmus frönt. Wir fachsimpelten über Strickmuster, vergangene und zukünftige Projekte und ich kehrte mit einem Stapel neuer Strickanleitungen nach Hause. Noch am selben Abend orderte ich Wolle. Graue Alpaka-Novemberwolle für ein großes Schultertuch.

Und drei Tage später schlug ich die ersten Maschen an. Ich wollte nämlich nicht erst im November mit dem Tuch beginnen und dann pünktlich zum Frühlingsbeginn, wenn mir nach luftigen, hellen Schals ist, fertig werden. Also strickte ich mich durch den Sommer und Frühherbst. Ich strickte einige Traurigkeiten in das Tuch, schlechte Nachrichten, Sorgen ebenfalls und jede Menge leichter Schwimmbadnachmittage. Und pünktlich zum November war ich damit fertig. Ich muss euch sagen: Ich bin meinem Sommer-Ich äußerst dankbar für ihre Strickausdauer, denn bei den jetzigen Gefrierschrank-Temperaturen gibt es nichts Angenehmeres, als mich wie ein Burrito in das Tuch zu wickeln. Vor allem, wenn ich in meinem Arbeitszimmer sitze, dessen Heizungswärme nur meine Füße erreicht, aber nie meinen Rücken.

Vieles, das wir heute tun, hat nicht nur unmittelbare Auswirkung auf die Gegenwart, sondern meist auch auf die Zukunft. Mir hat das Stricken im August die Zeit vertrieben, mir Momente der Entspannung geschenkt und mich von November bis heute gewärmt.

Und wer weiß? Vielleicht werden wir im kommenden Herbst und Winter unserem Februar-Lockdown-Ich Danke sagen? Für die Hartnäckigkeit, mit der wir jeden Tag in jener Zeit meisterten. Für jedes Vokabelabfragen. Für jeden Kampf, dem wir uns stellten. Das schwere Gespräch, das wir führten. Für Tomaten, die wir vorzogen und Kürbisse und Gurken. Für Gebete, die wir sprachen, auch wenn uns die Hoffnung fast schon abhanden gekommen war. Für Worte, die wir schrieben. Für die Mobilisierung letzter Kräfte. Für diese Idee, die so verrückt klang und der wir doch nachgegangen sind. Für unsere Treue mit zusammengebissenen Zähnen. Für unser Schweigen an den Kampforten der sozialen Medien und die Klärung eines Missverständnisses mit einem Freund. Für das Ordnen und Ausmisten unserer Ablagen und Kellerräume und Küchenschränke. Für jedes Klavierstück, das wir übten und jede Runde, die wir durchs Viertel trabten. Dafür, dass wir uns mit aller Macht gegen Hoffnungslosigkeit stemmten. Und als wir liegenblieben, holten wir uns Hilfe. Wir ließen los und stellten erstaunt fest: Die Welt gerät nicht aus ihren Fugen. Wir werden uns bei uns selbst bedanken, dass wir uns erlaubten zu träumen. Von einem Frühling. Einem Sommer. Dass wir Träume füllten mit Sehnsüchten, die wir uns tagsüber verboten, aber denen wir kurz vor dem Einschlafen die Tür öffneten.

Diese Tage fühlen sich an wie ein Einheitsbrei, kein Ereignis sticht heraus und den erneuten Lockdown nehme ich mit einem Schulterzucken hin. Der Winter, so hatte man uns angekündigt, werde hart. Nun ist er da. Ich träume nach vorne. Und ziehe das Tuch ein wenig enger über meine Schultern, während ich Maschen für ein Frühlingstuch anschlage.

7 Kommentare zu „Nach vorne träumen

  1. Danke für diesen guten Morgen liebe Veronika. Du sprichst mir wieder wie so oft aus der Seele, es tut so gut mit seinen Gedanken und Strickereien nicht alleine zu sein 😊
    Gottes Segen möge Dich begleiten
    Liebe Grüße Daniela

  2. Ich danke Gott dafür, dass er dich hingestellt hat, wo du bist und immer wieder in das Leben so vieler Frauen sprichst. Das ist ein Segen.

    Ich wünsche allen Kraft und immer wieder Mut für die Lebensaufgaben.
    Herzlich,
    Lydia

  3. Ich lese so gerne deine Zeilen, weil du mir irgendwie immer aus der Seele sprichst. Ich mag deine Worte, deine Sprache und einfach deine Art, die Dinge des Alltags zu sehen und zu beschreiben. Heute ist mir sogar etwas weinerlich zumute. Weil auch ich mich von einem Tag zum nächsten hangle und vom nächsten Sommer träume. Trotzdem den Schnee genieße und versuche, das beste aus der Situation zu machen. Mit drei Kindern und einen Mann zu Hause immer irgendwie auf der Suche nach einer Möglichkeit keinen Lagerkoller zu bekommen und eine gewisse Portion Fröhlichkeit und Zuversicht in die Tage zu legen. Danke, dass du es immer wieder schaffst, meine derzeitigen Zustand in Worte zu fassen.

  4. da hast du so recht.
    Vorwärtsträumen ist, auch wenn es u.U. anders kommt, jedenfalls was positives, während man hoffentlich weiterhin negativ bleibt!
    Über Tomaten und Paprika habe ich diese Woche auch nachgedacht, weil mein altes, nur noch zum Wecken genutztes Handy mich daran erinnerte. (dazu taugt der Februar … stattdessen habe ich drei Tütchen Cosmea gekauft)
    Aber egal wie aufgeschlossen ich vorwärtsträume, das kommende Halbjahr wird mehr Gartenabwesenheit als Gartentage beinhalten. Vermutlich. Für Paprika und Tomaten wird keine Zeit sein. Wahrscheinlich. Oder es bleibt an den Gartennachbarn hängen.

Kommentar verfassen