Vergiss Work-Life-Balance

Der gefühlt längste Monat des Jahres ist um und damit für mich auch eine intensive Arbeitsphase. Seit Montag hänge ich hier rum und weiß nur wenig mit mir anzufangen. Heute früh bin ich um 4 Uhr aufgewacht und habe beschlossen: Ich streich den Kellerboden!

Nun wohnen wir schon seit bald drei Jahren in diesem Haus, das immer noch dunkle Ecken und eine wacklige Haustür besitzt. Nichts hat mich mehr Geduld und Gelassenheit gelehrt als dieses Haus, dessen Kellerboden nackter fleckiger Beton ist.

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Balance findest du nicht in diesen vier Wänden: Manchmal nimmt die Arbeit überhand. Meistens habe ich eine Handvoll Projekte am Start. Im Frühling ruft der Garten an allen Ecken und Enden “Hier!”. Muss ich die Vorweihnachtszeit erwähnen?  Oder wenn ein Umzug ansteht, eine Geburt, Teenagerhormone, eine Krankheit, das Altern.

Und dann wieder Zeiten der Ruhe. Muse. Eine Patchworkdecke nähen. Den Kellerboden streichen. Mit der Tochter Marmelade kochen. Lesen.

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Aber Rhythmus. Den findest du hier bei uns. Er ist der Taktstock, der mal schneller mal langsamer das Tempo vorgibt. Das Staccato aus Haushalt, Kochen, Fahrtdiensten, Hausaufgaben, Lernen, Abgabeterminen. Das Adagio der langen Wochenenden ohne Pflichten und mit langem Ausschlafen. Das Ritardando an erlösenden Freitagabenden. Und das Furioso in Zeiten des Wahnsinns.

Vergiss Work-Life-Balance. Das ist doch nur eine konstruierte Erfindung von burnoutgefährdeten Life-Coaches. Bist du schon mal auf einer Slackline gelaufen? Wenn nein, dann geh mal ein paar Schritte auf diesem wackelpuddingartigen Seil. Nur Spezialisten mit Körperbeherrschung und Konzentration tanzen mühelos über die Slackline. Ich gehöre definitiv nicht zu den Könnern. Meine Slackline-Versuche kann ich unter amüsantem Slapstick verbuchen.

Etwas in der Balance halten ist kompliziert und anstrengend. Wir können das Leben nicht in klar getrennte Bereiche aufteilen und dann beschließen, dass uns ein Bereich niemals stärker in Anspruch nehmen darf als der andere.

Das Leben kann uns stündlich und minütlich die Work-Life-Balance versauen.

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Lebens-Rhythmus. Diese Wort gefällt mir viel mehr. Es ist lebenszugewandter. Wir dürfen uns in diesen Rhythmus hineinspüren. Ihn willkommen heißen. Den Frühling, wenn wir Gas geben. Die Krankheitszeit, die uns zur Ruhe zwingt. Der Auftrag, an dem wir bis spät in die Nacht arbeiten. Lange Sommerabende, an denen wir das Werkzeug aus der Hand legen und in den Himmel schauen. Das Baby, das rund um die Uhr versorgt sein will.

Ein Tag hat seinen eigenen Rhythmus. Ein Monat. Eine Jahreszeit. Und ganze Lebensabschnitte. Das können meine Eltern, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben und heute nicht mehr verstehen, wie sie das geschafft haben, bestätigen. Nach Jahren eines vollen, lebendigen, anstrengenden Lebens sitzen sie heute früh um halb zehn in ihrem kleinen Häuschen mit ihrer Kaffeetasse am Frühstückstisch und hören eine Bachkantate im Radio.

Con Spirito.

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8 Kommentare zu „Vergiss Work-Life-Balance

  1. Großartig. Du triffst es mal wieder auf den Punkt bzw. Den Rhytmus Habe den Text gleich verteilt an Freundinnen. Danke mal wieder !!!!LG Johanna 

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  2. „Vergiss Work-Life-Balance. Das ist doch nur eine konstruierte Erfindung…“
    Herrlich! Musste laut loslachen 😂 Danke!!
    Ich möchte auch viel lieber lernen, meinen eigenen, immer wieder ver-rückten “Lebens-Rhythmus” zu umarmen und mein ständiges Herunterfallen auf allen Pferde-Seiten…
    Wie sehr hätte ich mir früher gewünscht (und ertappe mich immer noch dabei…),
    endlich die perfekte Balance zu finden und oben auf dem Pferd sitzen zu bleiben…
    um dann auf alle anderen um mich herum herabzuschauen zu können
    und sie für ihr Unvermögen zu belächeln,
    ihnen meine “So-machst-du’s-richtig-Regeln” unter die Nase zu reiben
    und sie mit meinen inneren “Wie-kann-man-nur?!”s abzuurteilen, wenn sie es nicht schaffen…

    Inzwischen bin ich so dankbar, dass es mir nicht gelungen ist, sonst hätte ich nie die Barmherzigkeit entdeckt, die unter dem hohen Ross auf Boden lag – unter Staub und Pferdemist verborgen…

    Von Herzen
    Britta

  3. Endlich etwas, woran ich mich wiederfinde…
    Work-life balance war es nicht… Ihr das schon klären von work-life und Mum Bällen….

    Aber da sind ständig welche runtergefallen.
    Rhythmus ist besser. Da kann ich auch mal gehackt sein, aber ich weise es kommt auch wieder ein langsamer Teil…

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