Der erste Schultag nach zwei Wochen Osterferien dämmert. Nasser Nebel steht über den Wiesen. Die letzten Wochen waren ungewöhnlich warm gewesen, aber heute tut der April endlich das, was er tun soll: Sich nicht entscheiden können zwischen Kälte und Wärme. Ein bisschen Regen, ein paar Sonnenstrahlen. Auch meine Kinder können sich nicht entscheiden. Wollen sie liegenbleiben oder doch lieber aufstehen? Es ist ein harter Kampf. Selbstdisziplin schlägt schließlich Schweinehund.
Schweigend und müslikauend sitzen wir am Esstisch. Die Mädchen sind damit beschäftigt, ganz und gar aufzuwachen, sich innerlich für den neuen Tag, die Schulwoche zu rüsten und sich der Realität zu stellen, die nun nicht mehr aus süßen Ferientagen besteht.
Von meinem Platz am Esstisch aus habe ich einen Blick auf unsere Straße. Ich nehme einen Schluck von meinem Tee und stutze. Eine junge Frau biegt ums Eck, bleibt stehen, zieht hektisch ihr Handy aus der Tasche und tippt darauf rum. Dann hält sie es sich ans Ohr. Nervös blickt sie um sich. Ich stelle meinen Tee ab. Ich weiß, was in dieser Straße zu dieser Tageszeit normal ist und was nicht. Falschparker, Omas mit ihren Einkaufskörben und Kinder auf dem Weg zur Schule sind normal. Ebenfalls das verliebte Wildtaubenpärchen, das gerne mitten auf der Straße spazieren geht. Aber das riecht nach Ungewöhnlichem.
Im nächsten Moment explodiert die Szene. Ein Mann schießt ums Eck, stürzt sich auf die Frau und prügelt wild auf sie ein. Sie reißt die Arme hoch, versucht wegzurennen. Eine Verfolgungsjagd durch unsere Straße beginnt. Die Häuser schweigen. Rollos bleiben unten. Das Taubenpärchen flattert auf und flieht. Ich springe auf, meine Töchter und ich kleben am Fenster. Was soll ich tun? In mir entbrennt ein Kampf zwischen Feigheit und Mutanfall. „Das ist sicherlich nur ein Fall von häuslicher Gewalt. Misch dich nicht ein,“ flüstert die Feigheit. „Geh sofort raus und stell dich ihnen in den Weg. Lass nicht locker. Biete Hilfe an,“ fordert der Mutanfall. Währenddessen schlägt die Frau einen Haken und biegt in die wilde Wiese hinter unserem Haus ab. Ich renne in den Garten, meine Füße werden vom Tau getränkt. Die Frau schreit um Hilfe und ich nehme Fahrt auf. „Hey!“ brülle ich. „Hey!“ Ich rufe mir selbst Mut zu. Habe ich noch eine Stimme? Oder versagt sie mir gerade?
Die beiden scheinen sich ein wenig zu beruhigen. Ich rufe ihnen zu: „Alles in Ordnung?“ Der Mann beschwichtigt: „Jaja, alles ok!“ Die Frau: „Nichts ist ok!“ Dann verschwinden sie im Gebüsch, betreten die Straße und verschwinden zivilisiert ums Eck. Als hätte mein Einschreiten einen Bann gebrochen. Ich schaue ihnen nach und möchte weinen. Adrenalin pumpt durch meinen Körper. Meine kleine Tochter steht mit großen Augen auf der Terrasse.
Hätte ich doch die Frau direkt ansgesprochen, sie gefragt, ob sie Hilfe braucht. Hätte ich mich doch nicht einfach so schnell abwimmeln lassen von der offensichtlichen Lüge des Mannes. Denn nichts war ok. Aber ich wollte ihm glauben und nicht zu weit von meiner eigenen Bequemlichkeit abrücken. Genügte es denn nicht, dass ich mir nasse Füße geholt hatte?
Gestern Abend sind wir von einem Wochenende mit anderen Christen zurückgekehrt. Ein bisschen zurückgeschwebt sind wir, belebt und beschwingt. Aufgetankt mit guten Gesprächen und Eindrücken und vielen guten neuen Vorsätzen. Es sind keine 24 Stunden her, als ich einer Freundin am Tisch sagte: „Wir wollen doch kein bequemes Leben führen, nicht war? Dafür sind wir nicht hier.“
Es ist eine Sache, in einem geschützten Raum, mit vollem Bauch und einer gewissen frommen Selbstzufriedenheit diese Worte auszusprechen und meine Wonder-Woman-Wannabe-Muskeln spielen zu lassen. Es ist eine andere Sache, vom Frühstückstisch weggerissen zu werden, sich ungekämmt und mit Mundgeruch dem Unrecht in den Weg stellen zu müssen. Das ist dann der Lackmustest, den ich nur halb bestanden habe.
Martin Luther King schreibt in seinem Traum vom Frieden: „Ich rufe alle Menschen guten Willens auf, nicht angepasst zu sein, weil es sehr wohl sein könnte, dass die Rettung unserer Welt in den Händen der Nichtangepassten liegt.“
Wir müssen unbequem werden für diese Welt, um Raum für echten Frieden zu schaffen. Dem geht oft ein Kampf, ein Aufruhr voraus. Es ist nie bequem, die Wahrheit auszusprechen, jemanden zu konfrontieren, keine Rache zu suchen, für unsere Feinde zu beten, uns die Füße nass zu machen, radikal zu lieben, Jesus nachzufolgen.
Es gibt im englischsprachigen Raum folgenden Ausspruch, den ich frei übersetzt habe: Sei die Art von Frau – wenn sie am Morgen die Füße aus dem Bett schwingt – bei der der Teufel ausruft: Mist, sie ist auf!
Lasst uns solche Menschen sein. Die Dämme gegen die Furcht bauen. Die aus ihrer Haltung der Konfliktvermeidung heraustreten.
Die Unrecht laut und klar beim Namen nennen und nicht nur hilflos„Hey“ schreien.
Lasst uns unbequem werden. So dass der Teufel jeden Morgen seinen Wutanfall bekommt, wenn wir aus dem Bett steigen.
Hallo Veronika,
ich denke, Du hast gut gehandelt. So im Affekt das “Richtige” zu tun in einer ungeplanten Situation ist eh sehr schwierig. Wer will denn beurteilen, was da richtig ist? Du hast dem Mann Einhalt geboten. Wenn die Frau in einer absoluten Notsituation gewesen wäre, hätte sie die Gelegenheit gehabt, Dich um Hilfe zu bitten. Du hast gezeigt, dass Du bereit dafür bist.
Dann ist es an ihr, die ausgestreckte Hand anzunehmen, die sich ihr bietet. Es ist traurig, dass sie “zivilisiert” mit ihm weggegangen ist und sich wahrscheinlich weiter so von ihm behandeln lässt.
Du kannst Hilfe nur anbieten, aber niemanden zwingen, sie auch anzunehmen.
Du bist eingeschritten, so gut es Dir in dem Moment eben möglich war. Es gibt immer die Möglichkeit, wie man es noch besser hätte machen können. Aber es hätte auch die Möglichkeit gegeben, die Augen zuzumachen und gar nichts zu machen. Sei auch mit Dir selbst ein bisschen gnädig.
Ich bin froh zu wissen, dass es Menschen gibt, die aus ihrer Bequemzone herausrennen und sich nasse Füsse holen würden, wenn ich in Not geraten würde. Auch wenn ihre Hilfe dann vielleicht nicht perfekt wäre, aber sie wären da, und das ist es doch, was zählt: Dass wir, so gut es uns möglich ist, füreinander einstehen, genau da, wo es JETZT erforderlich ist.
Liebe Grüße, Daniela
Oh, wow! Was für ein Wochenauftakt! Und welch wunderbare Gedanken Du dazu hast: denn darum geht es doch letztendlich! Nicht, in dieser völlig neuen Situation spontan perfekt zu reagieren, sondern daraus zu lernen und sich so zu stärken, für den Kampf mit dem Teufel! Ich feier Dich <3
Danke! Für deinen Mut und deine Ehrlichkeit! Danke für die Ermutigung in eben solchen Situationen.
Liebe Grüße Miriam K. Frank
Von meinem iPad gesendet
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Vielen DAnk VEronikawie oft ist es mir schon so ergangen. und wie oft würde ich mich lieber mit meinen vermeintlichen wonder-woman-kräften in meiner rosa Seifenblase verstecken, als die Füße nass zu machen. DAnke für deine Ermutigung. So hätte ich es auch gemacht. =)danke überhaupt für die vielen Worte, die ich schon lesen durfte von dir. ich liebe ehrliche Frauen =)gute Woche nochJohanna
http://www.johannawalter.de
Das war doch ein guter Anfang.
Einfach nur WOW, wie du mutig gehandelt hast an diesem Morgen. Hinterher kann man immer vieles “besser” machen. Du hast mit Herz gehandelt und wohl mehr bewirkt, als du ahnst. Danke für die Ermutigung, ganze Sache zu machen und nicht nur darüber zu reden. Die Situationen, in denen unsere Zivilcourage gefordert ist, kommen ja selten zum passenden Zeitpunkt. <3