Unseren Berg vom Kurort sind wir herabgerutscht ins Tal, vollbepackt bis unters Autodach mit ausgefransten Schneehosen, ausgelesenen Büchern, neuerworbenen Walkingstöcken, Tüten voller Bergkäse und Kladden voller Kinderbilder. Nach drei Wochen Kur nahmen die Mädchen und ich Abschied. Buchstäblich von allem: “Tschüß Hochgrat! Tschüß Käserei! Tschüß Dorfladen! Tschüß liebe neue Freunde! Tschüß Sonnenalm! Tschüß Schlittenhügel! Tschüß Pferde!” So schwer wie unser Gepäck waren auch unsere Herzen. Wir winkten dem schneeversunkenen Örtchen nach, bis es unserem Blickfeld entschwunden war und die Gedanken sich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder nach vorne richteten.
Drei Stunden später waren wir daheim. Ich schloss die Tür auf, mein Blick fiel in ein aufgeräumtes Zuhause (Danke, mein liebster Mann!)und ich fremdelte im ersten Augenblick ein bisschen. Hier würde ich ab nun wieder größtenteils selbst für Ordnung sorgen müssen. Für Mahlzeiten, die zur rechten Zeit auf dem Tisch stehen. Für geputzte Böden und Müllentsorgung. Dafür, dass die Mädchen ihre Hausaufgaben pünktlich erledigen und Klavier üben und der Ranzen immer gepackt ist. Ich spürte körperlich, dass das Leben wieder Fahrt aufnahm. Wie eine Achterbahn, die gemütlich eine ganze Weile die Anhöhe hinaufgezogen wird und dann – ohne Vorwarnung – ins Tal hinabstürzt, einem das Blut in den Kopf schießen lässt und den Körper mit Adrenalin-Spitzenwerten vollpumpt.
Adrenalin war die folgenden Tage schwer angesagt. Termine und Emails und Staubmäuse und Wäsche und ein seltsamer Geruch in der Wäschekammer (den ich bis heute nicht identifiziert habe) schlugen über mir zusammen. Ich wusste nicht, wohin ich mich zuerst wenden sollte. In den drei Wochen Kur hatte ich mich dermaßen entspannt, dass ich zwar jetzt ein Meister in Sachen Achtsamkeit und Entspannung war, aber alle hausfraulichen Qualitäten flöten gegangen waren. Da vergaß ich, den Igel zu füttern und Wäsche zu legen. Aber ich konnte stundenlang auf der Couch sitzen und Handschuhe stricken. Der Boden klebte, aber ich ging eine Runde Nordic Walking. Das Abendessen bestand nur aus Joghurt, aber dafür bereiteten wir mit Naturmaterialien Eisringe vor.
Meine selbstgesteckten Ideale bröckeln. Ich bleibe hinter ihnen zurück. Ich schaffe es nicht, alles zu jeder Zeit zu sein. An einem Tag bin ich eine richtig gute Mutter und dafür keine Hausfrau. An einem anderen Tag bin ich mit vollem Herzen Autorin und dann halt keine besonders aufmerksame Mutter. Ich möchte meine Ideale sehr viel kleiner stecken und mir damit die Freundlichkeit erweisen, nicht ständig aus dem letzten Loch pfeifend durch die Wochen und Monate meines Leben zu hecheln und versuchen für alle alles zu sein. Sondern ab und zu ein Tänzchen einzulegen. Freude kultivieren. Zeiträume schaffen. Selbstmitgefühl entwickeln. Nur EINE Facette ausleben. Der Achterbahnfahrt ein bisschen das Tempo rausnehmen. Oder vielleicht erst gar nicht in die Achterbahn einsteigen? Mich diesem ganzen Zirkus so gut wie möglich verweigern?
Ich steh eh nicht auf Achterbahnen. Sondern mehr auf langsame Riesenräder. Wo ich gemeinsam mit anderen auf Entdeckungsreise von oben gehe. Und nicht in Gefahr stehe, meine kreischenden Reisegefährten vollzuspeien.
Sonntagabend. Ich plane die neue Woche. Es fällt mir noch schwer, tatsächlich freie Zeit (freie Zeit!!) konsequent einzuplanen. Mir nur zwei Abende pro Woche außer Haus zu erlauben. Aber es braucht seine Zeit bis neue Verhaltensweisen in Fleisch und Blut übergehen. Wir leben in einer Kultur, die doch immer das Höher-Schneller-Weiter propagiert. Ich steig da jetzt mal ein bisschen aus. Ihr findet mich im Riesenrad.
Ich freue mich, dass ihr den vielen Schnee gut überstanden habt und du so erholt klingst!
Wie wunderbar, liebe Veronika!
Vielleicht sollte ich auch mal ein paar Runden im Riesenrad drehen :0)
Ganz liebe Grüße von Uta
Klingt wunderbar!
Vor bereits 16 Jahren habe ich fast zeitgleich im damals verschneiten Bad Wurzach in einer Mütterkur ähnliche Erkenntnisse erworben. Wir Frauen neigen wirklich dazu, immer wieder mit zu vielen Bällen zu jonglieren und darüber uns selbst (oder die Beziehung mit Gott) zu vernachlässigen. Natürlich ist es dann zurück im Alltag oft noch ein längerer Prozess und herausfordernd, wieder neue Prioritäten zu setzen und einen Gang runter zu schalten, doch ich wünsche Dir, dass Du bei jedem Hinfallen unter Gottes gnadenvollem Blick mit neuer Kraft und Zuvesicht aufstehen kannst. Alles Liebe und ganz viel Freude für Deine Alltagswelt!
Der Gedanke gefällt mir: Jeden Tag nur eine Facettte ausleben und einem Bereich gerecht werden und nicht ständig allen Idealen nachrennen… Danke!
Ich wünsche gutes Ankommen im Alltag, gutes Konservieren der Erkenntnisse und Erholung und einen tollen Ausblick vom Riesenrad!
Sula
Und was ich aus meiner Reha mit nach Hause genommen habe: sei gnädig mit dir selbst! Wenn die Ideale, die sich so einfach in der Ruhe stecken ließen, wenn Vorsätze auseinanderzubrechen drohten, will ich gnädig sein mit mir. So wie Gott es auch ist.
Ich hoffe dass sich dein Leben inzwischen wieder riesenradmäßig dreht!
LG