Im Sommer fuhren wir in den Urlaub. Im Herbst kehrten wir zurück. Dazwischen lagen sechs Tage Bodensee. Mehr Urlaub war dieses Jahr nicht drin. Wir hatten recht spontan zwei Zimmer mit Vollverpflegung auf der Lindenwiese bekommen. Ich war dort als Kind jedes Jahr – großes Bären-Familientreffen mit einer Menge Menschen, die entweder schwäbisch oder englisch sprachen. Wenn das schon nicht befremdlich genug war, so tat die Rock-Dutt-Mode ihr Übriges. Ich brauchte gar nicht ins Ausland, um im Urlaub etwas zu erleben. Die Lindenwiese war Exotik genug. Immer gab es irgendwo eine nette Tante, die Eis spendierte und unternehmungslustige Kinder, mit denen ich Unsinn machen konnte. Und nun kehrte ich an einen Ort mit allerschönsten Kindheitserinnerungen zurück. Es hatte sich kaum etwas verändert. Und ich erkannte jede Kleinigkeit wieder. Selbst der kleine Bach, an dem ich Staudämme gebaut hatte, war noch da. Als ich meinen Mädchen beim Planschen zusah, überfluteten mich Flashbacks und es war wieder 1983.
In den sechs Tagen am Bodensee fielen die ersten Blätter von den Bäumen und bei mir fiel das Bild, das ich von mir selbst aufgebaut hatte. Die letzten Monate…..oder sind es Jahre?….hatte ich Vorstellungen gefüttert, wie ich mein Leben gestalten wolle. Die Vorstellungen waren groß. Zu groß, als das ich sie je hätte füllen können. Zu viele Ideen und Pläne und Tätigkeiten. Jetzt kam noch die Hausrenovierung dazu. Und dann begann ich auf einmal ganz fürchterlich vergesslich und schusselig zu werden. Als ich vor zwei Wochen zu meiner Schwester nach Wiesbaden fuhr, vergaß ich Führerschein, Ausweis und Handy daheim (bitte erzählt das nicht meinem Mann!). Aber ich hatte Wachsmalkreiden und Stoffmalfarben dabei! Ich vergaß in letzter Zeit Termine, Emails, Schlüssel, Rückrufe und so weiter. So war ich noch nie. Und so bin ich auch nicht in meiner Vorstellung.
Dann merkte ich, dass mein Schreiben einschlief. Keine Zeit! Ich verschob alles, was mir eigentlich Freude macht, immer auf später, später, später. Ein Zeichen, dass ich auf dem guten Weg war, mich selbst zu verlieren. Ich war das Duracell-Häschen auf Speed. Ich machte meinen Träumen Beine, die das Tempo nicht aushielten. Ich versuchte das Leben anderer nachzuahmen und spürte, dass ich mich selber dabei verlor.
Am ersten Tag auf der Lindenwiese zog es mich hinaus in die Natur. Ich wanderte ziellos herum und stieß am Waldrand auf eine rote Bank mit der Aufschrift:
Hier blieb ich. Und dann wurde mir klar, dass ich hier ein Date mit Gott hatte. Er nahm mir Stift und Papier aus der Hand, womit ich bereits neue Listen für daheim schreiben wollte. Und damit nahm er mir einen Stein vom Herzen. In dem Moment war ich nicht mehr verantwortlich alles irgendwie zu schaffen. In dem Moment war ich wieder Kind. Sorglos, beschenkt…wie eine 9-Jährige, die gerade von der gütigen Rock-Dutt-Tante eine Riesentüte Eis spendiert bekommen hatte.
Am nächsten Morgen steuerte ich wieder meine Verschönerungsbank an. “Soll ich mich heute damit beschäftigen, wie es daheim weitergehen soll?” “Nein, genieß einfach nur den Ausblick und die Zeit mit mir.”
Ein weiterer Urlaubstag ging ins Land und ich saß wieder auf der Bank und an dem Morgen hatte Gott drei Fragen für mich: Wer bist du? Wer bist du nicht mehr? Wo braucht es radikale Einschnitte?
Ich bekam sofort Panik, weil ich mit diesen Fragen in eine Nebelbank lief. Fragen, auf die ich nicht augenblicklich Antwort habe, machen mich extrem nervös. Ich bin kein Mensch, der Antworten reifen lassen kann. Also betete ich einfach nur eine Weile. Ohne irgendeine Agenda. Sondern wie ein Kind, das zurückkehrt.
Nachts grollte das Gewitter über den Bodensee. Ich hörte dem Regen zu. Und am nächsten Morgen setzte ich mich zum letzten Mal auf die regennasse Verschönerungsbank. Vor mir ausgebreitet lagen die sanften Hügel, aus denen Nebelschwaden emporstiegen. Und ein Maisacker, der halb abgeerntet war. Auf der einen Seite prachtvolle Stauden, an denen pralle, grüne Kolben hingen. Auf der anderen Seite abgeernteter Boden, umgepflügt. ruhend, wartend. Ich weiß, es ist ein klischeehaftes Bild, jahrtausende Jahre alt. Aber wenn man so verstrickt ist in sein eigenes überfrachtetes Leben, können einen manchmal nur die eindeutigen Wahrheiten herausholen. Nach vielen Jahren “Fruchtbringen” fühle ich mich abgeerntet. Ich kann gerade beim besten Willen nichts mehr Produktives aus mir herausquetschen. Leer, umgepflügt. Nicht das Ende. Aber notwendig. Ich brauche die Winterruhe.
Ich bin nicht die Veronika, die alles schillernd schafft. Ich bin einfach nur Veronika. Manchmal übersprudelnd produktiv und kreativ. Und manchmal furchtbar müde und ruhebedürftig. Geliebt: immer. Ich nehme nun keine Fotoaufträge mehr an. Werde deutlich weniger am Haus machen. Muss nicht jedes Brot selber backen und jedes Kleid selber nähen. Ich will wieder Zeit haben für Freunde, für spontane Kaffee-Dates, fürs Schreiben, für Sport. Für Dates mit Gott.
Es waren nur sechs Tage am Bodensee. Aber ich wurde in der Zeit maximal beschenkt. Auch wenn ich mir mein Eis mittlerweile leider selber kaufen muss…..
Liebe Veronika 😄
Dein Artikel hat mich voll geflasht … Ich sitze hier heulend, weil es gut tut, wie wir einfach nur wir selbst sein können und nichts tun müssen, um Gott zu gefallen … Nicht produktiv sein müssen, um wertvoll zu sein! 😍
Danke für diese berührenden Worte: sie gehen tief ins Herz! ❣️
Und du wirst über diesen Blogg immer Frucht bringen: einfach indem du dein ❤️ ausschüttest und es mit uns teilst! Das tut immer wieder so gut: Deine liebevolle, ehrliche, humorvolle Art!
Alles Liebe aus Bochum und einen guten weiteren Weg beim Kraft-Tanken,
Debby 😃👋👋
Ja, so ist es!!!
In diesem Sinne auch ein herzliches Danke von mir
Was für schöne Fotos, was für ein berührender Text mit so vielen Gedanken. Gedanken, die ich zum Teil auch sehr gut kenne. Winterruhe – ein gutes Wort. Von Herzen wünsche ich sie dir! (Das mit dem Fruchtbringen sollte dann wohl von ganz alleine geschehen…) Herzliche Grüsse, Sonja
wie schön.
wie gut.
ich freu mich für dich, dass du die Bank hattest — ich hab jetzt nämlich auch was davon 🙂
hast du gesehen, das Bild mit dem Uhrenturm … das achte von oben, … für mich das sieht aus, als hätte die Uhr am Turm lila Augenbrauen. Witzig.
Wunderschöne Bilder und mal wieder toll geschrieben. In Überlingen werden wir im Oktober unsere Herbstferien verbringen. Wir werden wieder in der Nähe auf einem Bauernhof sein, an dem wir zum 3. Mal Ferien machen werden, weil es uns dort so gut gefällt. Ich lese Deine Posts immer wieder sehr gerne. Danke!
Liebe Grüsse
Claudine