Müde

IMG_5172_edited-1Gestern Abend saß unser Hauskreis zum ersten Mal in unserem neuen Wohnzimmer. Der weibliche Anteil plauderte über dies und das, und alle waren beglückt vom Ausblick ins Grüne. So hatte ich mir das immer vorgestellt. Unser Wohnzimmer voller Leute, die ich gern habe.

Dann forderte ich alle auf, für ein paar Minuten ruhig zu sein. Keine großartigen Gedankengebäude errichten oder scharfsinnige fromme Geistesblitze herbeisehnen. Nur in uns hineinhorchen. Ich glaube nämlich, dass alle in unserer Runde totale Leistungstypen sind und dass wir vor lauter Rennenmachentun oft nicht wissen, wie es uns geht. Also Ruhe. Herzschlag runterfahren. Atmen. Horchen. Mein Kopf plapperte in einer Tour weiter: Was ist morgen noch zu tun? Was sage ich nachher im Austausch? Warum hat sich Angelina Jolie von Brad Pitt getrennt? Es brauchte eine Weile, bis die äußere Ruhe ins Innere vordrang und mein kleines Plappermaul zum Schweigen brachte. Ich spürte den ziehenden Schmerz im Nacken, die Schwere in meinen Gliedern, die Müdigkeit im Kopf. Das war es also. Ich war müde.

Ich fühlte mich wie ein Marathon-Läufer, der ins Ziel stürzt und der dank seines Schwungs noch eine Weile weiter rennt, bis seine Beine merken, dass sie nicht mehr rennen müssen. Die letzten Monate bin ich “gerannt” wie eine Irrsinnige. Und ich hab dabei sogar meistens die Nerven behalten, was ich noch irrsinniger finde. Das Tempo steckt noch in mir drin, die Beine rennen noch weiter, obwohl ich doch schon im Ziel bin.

“Ich hab gerade festgestellt, dass ich müde bin. Körperlich und emotional”, sagte eine Freundin neben mir auf der Couch. Auch sie rennt und leistet und kümmert sich ohne Pause.

Ich schaute sie überrascht an. Wie sehr wir uns manchmal die eigene Erlaubnis abringen müssen, einfach müde sein zu dürfen!

Meine Güte,viele von uns rennen ihren persönlichen Marathon: Babies, die nicht schlafen wollen. Kranke Kinder. Pflegebedürftige Eltern. Renovierung und Hausbau. Herausforderungen im Job. Stress mit dem Partner. Und weil uns das alles nicht genügt, schnallen wir uns gerne noch ein paar Gewichte an die Beine: Unnötige Projekte. Perfektionsmus. Das Vergleichen mit anderen. Das richtige Erziehungskonzept. Ein voller Terminkalender. Mikromanagement unserer Kinder.

 

Jetzt mal ehrlich: Kein Marathonläufer der Welt würde sich freiwillig Gewichte an die Beine schnallen. Bei Kilometer 27 würde er sich weinend auf den Asphalt werfen. Und wir? Wir dopen uns mit Kaffee, medialem Lärm und Alkohol. Und dann machen wir weiter. Bis wir auch irgendwann weinend auf dem Asphalt liegen.

Wir dürfen müde sein. Das ist nie nie niemals Schande. Aber dann halten wir doch bitte schön an. Schalten alle Geräte ab, die uns künstlich wachhalten. Schnallen unsere Gewichte ab. Schlafen einen tiefen, ehrlichen Schlaf. Und dann gehen wir weiter. Gehen! Nicht rennen. Und bitte ohne zusätzliche Gewichte.

 

 

8 Kommentare zu „Müde

  1. Liebe Veronika,
    das fühlt sich an, wie für mich geschrieben, vielen lieben Dank!
    Nach Monaten mit immer stärker werdenden Schmerzen (Rücken) habe ich mich endlich durchgerungen, es nicht mehr auszuhalten, zu unterdrücken, irgendwie zu kompensieren und zu versuchen, trotzdem weiterhin zu funktionieren wie immer. Arbeit, familie, Haus usw. warten ja nicht.
    Ich brauche, nehme und bekomme nun Zeit für mich und meinen Körper, der mich (und ich ihn, du merkst, wie gespalten ich “uns” wahrnehme… :-/)) dringend braucht. Und trotzdem habe ich ein leicht schlechtes Gewissen, denn es fiel und fällt mir schon immer schwer, meine Belange an erste Stelle zu stellen.
    Mein Körper ist offensichtlich schon seit langem müde von meinem schlechtem Umgang mit ihm …
    Alle lieben Menschen um mich herum wissen schon lange, dass es so nicht weitergehen darf, bei mir sackt es erst langsam.
    Ja, ich bin müde und brauche Pause, um dann mit ruhigen Schritten weiterzugehen – und vor allem auch einen veränderten Weg weiterzugehen.
    Dein Blog tut mir immer gut, Veronika, heute besonders, danke!
    LG Ute

  2. Danke liebe Veronika, für deinen ehrlichen Blog! Ich liebe es sie zu lesen!!!
    Und vielmals stecke ich in ähnlichen Situation, wie du es beschreibst… und es tut einfach gut nicht alleine zu sein😊
    Mit meinen vier kleinen Kindern ( der älteste ist gerade mal 5 Jahre alt und der jüngste 7 Monate ) , da renn ich viel und bin münde!
    Umbau, Umzug etc. steht alles noch bevor und manchmal weiss ich nicht wie wir dies alles als Familie gut überstehen sollen😬
    Aber deine Gedankenanstösse und deine Bücher, so wie Jesus selber ( oh, falsche Reihenfolge… 😊 ) sind mein Anker ⚓️
    Danke das du dies alles mit uns teilst❤
    Eliane

  3. Das hast Du wunderbar geschrieben, ehrlich und so wahr… Danke!
    Einen ruhigen, schönen Ruhe-Tag (=Sonntag), Christina

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