Eines Tages, ich war acht, kletterte ich auf einen Stuhl und öffnete die schweren Türen des Schreibtisches meiner Mutter. Ich fühlte mich magisch angezogen von all den dunklen Fächern. Im Schreibtisch lagerten vor allem alte Fotos und eine Menge Krims-Krams, den ich nicht zuordnen konnte, aber spannend fand. Ganz oben erspähte ich eine Zigarrenkiste und hangelte danach. Ich wusste nicht, ob ich sie aufmachen durfte, aber die Neugier siegte. Mit klopfendem Herzen öffnete ich das Kistchen. Und dann hielt ich geschockt inne.
Das Kistchen war voller Geldscheine. Aber das waren keine gewöhnlichen Geldscheine. Nein! Meine Eltern hatten mich angelogen! Sie waren Millionäre….oder gar Milliardäre? Tatsächlich, ganz unten lagen sogar Milliarden-Scheine!! Mein Gehirn schlug Saltos. Warum verstecken meine Eltern diesen Schatz im Schrank? Warum haben sie uns nie was davon erzählt? Und warum kaufen sie mir dann nicht das Barbie-Traum-Haus, wenn sie soviel Kohle besitzen??
Auf einmal waren mir meine Eltern fremd. Voller Geheimnisse. Sie waren in echt MEGAREICH! Vielleicht war ich ja auch gar nicht ihr echtes Kind….sondern…adoptiert?? Mein Kopfkino machte Überstunden und meine innere Sicherheit erhielt einen Riss. Und das nur wegen ein paar wertloser Geldscheine aus der traurigen Inflationszeit der 20er Jahre.
Ein Restgefühl der Fremdheit blieb. Später in der Clique, bei der besten Freundin, in der Klasse, in der Ehe, unter Geschwistern. Man kann morgens gemeinsam aufstehen, den Tag miteinander verbringen und abends ins Bett gehen….und sich trotzdem so fremd sein. Eines Tages schaut man den anderen an und fragt sich heimlich: Wer bist du eigentlich? Und welche Geheimnisse hast du?
Nun habe ich Kinder, die größer werden und den halben Tag außer Haus verbringen. Wenn ich Amelie mit ihrer besten Freundin kichern sehe, dann möchte ich mich am liebsten dazwischen drängen und aufgeregt fragen, worüber sie lachen. Ich tue das natürlich nicht. Weil ich eine coole Mum bin. Aber innerlich bin ich eine flattrige nervöse Über-Mum, weil ich spüre, dass sich nun dieses Gefühl der Fremdheit auch in meiner Beziehung zu meinen Kids breit macht. Sie werden mehr und mehr sie selbst. Abgetrennt von mir.
Vielleicht ist ein gewissen Maß an Fremdheit normal, weil ich ja gar nicht alles vom anderen wissen kann und er nicht von mir? Weil ich mir ja manchmal selber fremd bin, vom Weg abkomme, mich völlig verirre und überhaupt nicht mehr weiß, wo und wer ich bin. Und andere verirren sich ebenfalls, unterdrücken ihr wahres Selbst, zeigen nur eine polierte Seite.
Vertrautheit und Nähe kann ich nicht erzwingen, nur Bedingungen dafür schaffen. Ich muss mich selbst verschenken: Meine Zeit, meine Fragen, meine Geschichten, meine Verwundbarkeit. Am besten funktioniert das bei uns daheim immer noch am Tisch. Wenn mittags die Mädchen aus der Schule und dem Kindergarten kommen, voll mit ihren Geschichten und Fragen und Nöten. Manchmal fließt alles aus ihnen heraus. Manchmal muss ich sie in Ruhe lassen und später meine Fragen stellen.
Vertrautheit passiert nicht automatisch, nur weil wir alle zufällig unter einem Dach leben.
Ich glaube ja sowieso, dass wir hier auf der Erde völlig blind umherstolpern und uns nach Zugehörigkeit sehnen, die wir nie in dem Maß erhalten, wie wir sie brauchen. Meine Kinder nicht, mein Mann nicht, ich nicht.
Richtig zu Hause werden wir erst an der großen Fest-Tafel sein, die Gott verspricht. Das glaube ich echt. Fast immer. Trotzdem will ich hier auf der Erde noch viel öfter Momente von echter Nähe erleben und verschenken. Weil das meine glücklichsten Momente sind.
Manchmal fängt so ein Moment mit einer Entschuldigung an. Manchmal mit einer Umarmung. Manchmal mit einer Einladung zum Kaffee. Manchmal mit einer Frage. Manchmal mit brutaler Ehrlichkeit.
Das ist Arbeit. Manchmal verdammt harte Arbeit. Manchmal Arbeit ohne Ergebnis.
Aber ich will mich jeden Tag neu bemühen, die Fremdheit in meinen Beziehungen ein bisschen zu killen. Weil wir Menschen mitten in der Fremde für Beziehung geschaffen wurden.
Heut’ morgen – gerade aufgewacht – hab’ ich Gott gebeten mir doch heute einen “Hinweis” zu geben, dass er sieht was mich im Moment so beschäftigt und “an welcher Front” ich kämpfe: Ich spüre beim Lesen dieses neuen Eintrags deutlich: Er sieht und versteht. …..
Eine schöne Ermutigung und Erinnerung “sich selbst zu verschenken”!
Wenn die Kinder klein sind, denkt man manchmal, dieses Mitkommen aufs Klo, diese ständige Nähe, das Geklecker und so weiter hört niemals auf. Und ehe man es sich versieht, ist man mit dieser Fremdheit konfrontiert – schon irgendwie krass. Danke für diesen Text!
Du sprichst grad in meine Situation hinein. Bin enttäuscht und verletzt und ich War ehrlich und hab meine Gefühle mitgeteilt. Nun hoffe ich auf eine Entschuldigung… auf Einsicht, von meinem Vater. Wenn die nicht kommt werde ich mich wohl noch mehr von ihm distanzieren müssen. Denn irgendwie müssen wir uns selber schützen…
ich werde mir auf jeden Fall Dein neues Buch kaufen. ..
GLG
Claudine
Es ist sehr schmerzhaft, wenn dieses Gefühl von Fremdheit auftaucht, gerade bei Menschen, die mir nahe stehen. Wenn ich den Grund nicht kenne, ist es noch schlimmer.
Ein guter Anstoß von dir, sich immer wieder aufzumachen, um diesem Gefühl und der Fremdheit selbst entgegenzuwirken. Wir sollen uns Heimat geben, auf dem Weg zur ewigen Heimat, habe ich irgendwo gelesen, da hat Fremdheit und Absonderung keinen Platz.