Ich bin halt auch manchmal total introvertiert

Ich kann mich noch genau an meinen ersten Tag in der fünften Klasse des Friedrich-Rückert-Gymnasiums erinnern. Meine langen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten und meine dünnen Finger klammerten sich an meinen grün-orangenen Schulranzen, der darauf wartete mit Englisch- und Algebrabüchern gefüllt zu werden. Hier war alles ganz anders als in meiner Dorf-Grundschule. Ich starrte bewundernd die anderen Mädchen an: wie wunderschön sie ihre gedauerwellten Ponys mit viel Haarspray in luftige Höhen gebürstet haben! Ich kam mir klein und unsichtbar vor mit meinen Zöpfen.

In der Grundschule hatte ich mich immer wie ich selbst gefühlt: frei, fröhlich, offen. Aber hier, auf den langen modernen Fluren mit dem billigen grauen Nadelfilzteppich, der einen elektrisch auflud, fühlte ich mich befangen. Ich war schon immer ein schüchternes Kind, wenn ich mich in einer ungewohnten Umgebung mit fremden Menschen befand. Ich betrat meine Klasse und war augenblicklich überfordert mit der Menge an fremden Kindern. Ein Mädchen winkte mich an ihren Tisch. Sie hatte die voluminöseste Dauerwelle, die ich je gesehen hatte und einen Pony, der dem Turm von Pisa in nichts nachstand. Ich fand sie toll. Sie war mein Rettungsanker. (Später fand ich sie nicht mehr so toll, weil sie sich als die größte Drama-Queen zwischen Losbergsgereuth und Unterpreppach entpuppte).

Ich fühle mich in ungewohnten sozialen Situationen heute immer noch genauso wie dieses 11-jährige Mädchen damals: unbeholfen, linkisch, unwohl. Damals habe ich schnell gelernt, diese Gefühle mit einem Witz, ungelenkem Small-Talk oder lautem Lachen wegzudrücken. Erst in letzter Zeit begreife ich, dass in mir zwei Seelen leben: eine introvertierte und eine extrovertierte. Die erstere ist mir unangenehm und ich habe sie mein halbes Leben lang versucht zu verstecken. Als wäre sie meine peinliche hässliche Schwester. Denn ein ungeschriebenes Gebot unserer Zeit erfordert von uns Extrovertiertheit. Alles andere wird kritisch beäugt (“Deine Tochter ist so still. Ist alles in Ordnung mit ihr?”). Ich erkannte lange nicht, dass mich die Gesellschaft anderer Menschen an Kraft beraubt und dass ich anschließend Zeit für mich brauche, um meine Batterien wieder aufzufüllen. Und weil ich es so lange ignorierte, sammelte sich in mir viel Müdigkeit und Groll an.

Ich bin nicht bekannt dafür, dass ich mich auf Partys und Seminaren und auf anderen sozialen Spielplätzen schüchtern zurückhalte. Ich kann laut sein, meine Meinung unverblümt äußern, lachen, Menschen direkt ansprechen und mich komplett zum Affen machen, ohne dass es mich stört. Aber nach ein oder zwei Stunden möchte ich nach Hause gehen und ein Buch lesen. Das war schon als Kind so: In den Ferien spielte ich einen halben Tag mit meinen Freunden in der Wildnis. Die andere Hälfte des Tages? Die verbrachte ich zurückgezogen auf meinem Bett mit einem Buch. Ich glaube, um herauszufinden, wer wir im Kern unseres Wesens sind, müssen wir einfach nur in unsere Kindheit zurückgehen. Eigentlich brauchen wir keine Selbstfindungstrips und Gaben-Tests….

Ich blühe auf in Gegenwart von Menschen, bei denen ich mich sicher fühle: meine Familie, enge Freunde, mein Hauskreis. Manchmal sind das auch Menschen, die ich erst seit fünf Minuten kennen. Aber selbst von diesen sicheren Orten brauche ich regelmäßig eine Pause.

Es fühlt sich noch sehr ungewohnt an: dieses Anerkennen meiner introvertierten Seite, die ich immer gleich als “Schwachheit” abwerten möchte. Aber das ist sie nicht. Sie ist meine andere Stärke. Weil sie mich vom Lärm des Lebens wegführt hin zu einem Ort, wo ich mir selbst und Gott begegnen kann. Wo ich umgeben bin von Büchern und leeren Tagebuchseiten und Stille. Wo ich nicht geben muss, sondern nur konsumieren darf.

Our culture made a virtue of living only as extroverts. We discouraged the inner journey, the quest for a center. So we lost our center and have to find again. – Anaïs Nin

(Frei übersetzt: Unsere Kultur hebt die Extrovertiertheit auf einen Thron. Wir haben die innere Reise abgewertet, die Suche nach einem Mittelpunkt. Wir haben ihn verloren und müssen ihn wiederfinden. – Anaïs Nin)

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8 Kommentare zu „Ich bin halt auch manchmal total introvertiert

  1. Hallo Veronika,
    du hast mir heute aus der Seele gesprochen.Genauso geht es mir auch.Darum bin ich bewußt in Exerzertitien gegangen und habe in dieser Zeit zu mir gefunden.
    Ich wünsche dir noch einen schönen Tag und Gottes Segen.
    Liebe Grüße Pippi

  2. Liebe Vroni,
    auch mir sprichst Du hier aus meinem Inneren – ich denke manchmal das ich sogar mehr introvertiert als extrovertiert – wenn ich manchmal bei Noah der komplett extrovertiert ist an meine Grenze komme und mich nach Ruhe sehne :-)…Und ja weil die Welt extrovertiert verlangt – manchmal habe ich das Gefühl nicht mehr mitzukommen. Aber schön zu lesen, dass man nicht allein ist und auch introvertiert gut ist 🙂
    Hab einen schönen Tag!
    LG aus der alten Heimat!
    Sonja

    1. Meine Güte, man könnte meinen du hättest mich beschrieben… Und derzeit ist die introvertierte Seite wieder voll da…dann ist es still auf meinem Blog.:-)

      Du siehst, es gibt noch viele dieser Artgenossen 😉

      Liebe Grüße, Maike

  3. Schönes Zitat am Ende. Wenn die Extrovertiertheit so weit oben steht zieht sich der Gegenpol noch weiter zurück. Was uns verloren geht ist Menschen in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit zu sehen und miteinander als Ergänzung zu erkennen.

  4. Liebe Veronica, dein Eintrag trifft alle, die auch so fühlen-mich auch. Mittlerweile schätze ich die Seite sehr an mir, die introvertiert ist, weil sie mir zeigt, wie ich zur Ruhe finde. Und ich weiß noch als Teenager, wenn ich mit Freundinnen unterwegs war und nach Hause kam, habe ich mich ins Zimmer gesetzt und Schals gestrickt und Klaviermusik gehört und fand das so schön, hab das aber niemandem erzählt, weil ich das so seltsam fand. Mittlerweile bin ich dankbar für die Ruhige in mir. Liebe Grüße, Lissy

  5. mir geht es genauso! als ich meinen Freunden hier mal gesagt hab, dss ich eigentlich total schüchtern bin und meine Ruhe brauche, hat das keiner glauben können, weil ich ja so laut und offen und überhaupt bin. so langsam finde ich einen gesunden Mittelweg für mich. Danke für deine so schönen, ehrliche Gedanken! liegrü

  6. Danke für deinen Eintrag. Du hast mir echt aus der Seele gesprochen. Vor ein paar Wochen bin ich über die neue family auf deinen Blog aufmerksam geworden. Ich lese ihn sehr gerne (auch deine alten Einträge). Du hast echt eine Gabe Dinge in Worte zu fassen. Danke.
    Hier noch ein Buchtipp zum Thema (falls du es nicht sowieso schon selber gelesen hast). Habe das Buch vor ein paar Jahren gelesen und fand es sehr interessant.
    Susan Cain: Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten WElt.

  7. Vielen vielen Dank für eure Anmerkungen! Ich bin ja ganz überwältigt. Wie schön, dass wir nicht ALLEIN sind in unserer vielfältigen Art der Introvertiertheit. Wenn wir wissen, dass es nicht nur uns selbst so geht, dann können wir vielleicht auch besser zu uns stehen. Und ich wünsche mir wirklich, dass wir Introvertiertheit nicht mehr als Schwäche, sondern wirklich als unsere Stärke ansehen.

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