Der Regen hat den Hof reingewaschen. Noch ist der Morgenhimmel grau, aber in der Luft liegt die Ahnung des nahenden Sommers. Im Kamin knistert ein Feuer, das meine Kinder und mich in den alten Gemäuern des Gutshofs wärmen soll. Meine Eltern, beide Mitte 70, bewohnen immer noch den Hof, auf dem mein Vater, meine vier Geschwister und ich groß geworden sind. Ein Besuch bei ihnen ist immer durchtränkt von Erinnerungen und Sentimentalitäten. Der Geruch des Spielhauses am Ende des Gartens katapultiert mich zurück in Augustnachmittage, an denen ich dort selbstvergessen mit meiner kleinen Schwester spielte. Der krähende Hahn, das Klackern der Murmeln, das Klappern der Küchenschranktüren, das Knarren der Bodendielen, der Klang des Klaviers, das leise Dröhnen der Motorflugzeuge – das ist der bis heute unveränderte Soundtrack meiner Kindheit. In dieser ländlichen Gegend verändert sich nicht viel. Das merkte ich heute morgen beim Besuch des Supermarktes, der immer noch von der gleichen Familie wie vor dreißig Jahren geführt wird. Hier ist kaum etwas zu spüren von der globalen Veränderung. Immer noch die gleichen Verkäuferinnen, nur etwas kompakter und älter. Weit und breit weder I-Phones, noch Bio-Limetten und Hipster. Das hippste ist ein Starbucks-Eiskaffee im Kühlregal. An der Kosmetikabteilung ging der Fortschritt der milliardenschweren Schönheitsindustrie spurlos vorüber. „Wie früher“, denke ich. Das Kosmetikhighlight meiner Jugend waren Clearasil-Gesichtswasser und babyblauer Lidschatten einer No-Name-Firma. Den Lidschatten haben sie noch immer im Angebot. Nur das Radio spielt nicht mehr David Hassehoff sondern „I see you baby shaking that ass.“
Jetzt sitze ich im Garten unter dem Nussbaum. Vor mir eine Schale Süßkirschen, in den Ohren der Soundtrack meiner Kindheit, in der Nase der Sommerduft von frisch gemähtem Gras und Sonnencreme. Meine Kinder spielen selbstvergessen mit ihren Puppen im Spielhaus. Heute Abend erwartet mich ein weiterer Trip in die ferne Vergangenheit: Grundschul-Klassentreffen. Ich habe ein bisschen Angst davor. Denn der Anblick meiner ehemaligen Klassenkameraden, mit denen ich früher um die Wette rannte, mich mit ihnen prügelte und Briefmarken tauschte, wird mich mit meinem eigenen Älterwerden konfrontieren. Im Herzen bin ich immer noch die kleine Vroni, die unbeschwerte Sommertage genießen will, die über einer Schüssel Süßkirschen fast ihren Verstand verliert und nicht an die Zukunft denken mag. Die Zukunft bedeutet, dass sich hier irgendwann doch alles verändern wird. Wenn meine Eltern nicht mehr können, wenn es diesen Garten nicht mehr geben wird, wenn das Spielhäuschen zerfällt und der Soundtrack meiner Kindheit schweigt. Ich möchte jeden Moment festhalten wie kostbare Perlen, aber sie entgleiten mir. Sie sind Augenblick-Geschenke, die ich nicht behalten darf. Umso dankbarer bin ich für das Geschenk der Worte und Bilder. Mit ihrer Hilfe kann ich diese Momente nachzeichnen, festhalten, verinnerlichen und noch Jahre später (wenn alles anders sein wird) die Gefühle nachspüren, die diese Sommertage in Sendelbach in mir ausgelöst haben.
Einfach nur geniale Bilder zum Träumen, sehr schön geschrieben!
Grüßle Janet
Tolle Bilder und sehr schön geschrieben. Wie gerne hätte ich von den leckeren Kirschen genascht 🙂
Ich habe meinen Weg zu diesem Blog über family gefunden – und da ich selbst blogge und gerne fotografiere, schaue ich seither immer mal wieder hier vorbei.
Liebe Grüße
Doro
Wow ist das schön dort!!! Kann mir so richtig vorstellen wie toll deine Kindheit da war und wie schön es jetzt ist dort mit deinen Kindern zu sein!
Voll schön geschrieben!
Liebste Grüße,
Hanna