Geschichte einatmen

Es stürmt immer noch draußen und der Regen fällt waagrecht vom Himmel (Mist, sogar der untergestellte Buggy ist nass geworden). Küstenwetter halt. Und in der Nacht rächt sich Amelie wohl dafür, dass ich sie einen Tag lang alleine gelassen habe. Von 1:45 bis fast 4 Uhr ist sie wach, döst manchmal wieder weg, fängt dann aber jedes Mal wieder zu weinen an. Wir Msind genervt und gerädert. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich momentan rasant entwickelt? Gestern nämlich hat sie ihre ersten ernstzunehmenden Krabbelversuche gestartet (O-Ton der hyperbegeisterten Eltern: „Ja, Amelie, TOOOOOOLLLLL! Du bist so ein Suuuuuuperbaby!!! Schnell, dieses Megaereignis MÜSSEN wir filmen!“). Und heute beginnt sie, sich an den Stühlen hochzuziehen.

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Trotz Müdigkeit und Regen wollen wir unbedingt noch eine Sehenswürdigkeit abhaken: Die Plimoth Plantation. Das ist ein nachgebautes Dorf der ersten Siedler, die hier 1620 landeten. Das war eine kleine Gruppe von strenggläubigen Puritanern, denen ihre Heimat zu liberal war und in der Neuen Welt ganz ungestört ihre Lebensart pflegen wollte. In Plymouth schlug also die Geburtsstunde des amerikanischen Volkes. Und hier erleben wir heute eine Geschichtsstunde der unvergesslichen Art.

Manchmal stelle ich mir folgende Frage: Wenn ich für einen Tag eine Zeitreise machen könnte, welches Zeitalter würde ich mir aussuchen? Und dann stelle ich mir vor, wie ich als Burgfräulein im Mittelalter meinen edlen Ritter anschmachte, in der Urzeit gegen Dinosaurier kämpfe und in den „Goldenen Zwanzigern“ mit Bubifrisur den Charleston tanze.

Aber dass ich tatsächlich einmal eine Zeitreise ins 17. Jahrhundert antreten würde, das habe ich mir nicht träumen lassen. Wir nähern uns dem Dorf, der Sturm peitscht uns vom Meer entgegen und als erstes taucht aus der Ferne ein Palisadenzaun auf (ähnlich wie der aus Asterix und Obelix). Ein paar herumstreundende Hühner begrüßen uns. Die Dorfstraße besteht aus mühselig errichteten, reetgedeckten Holzhäuschen, flankiert von Gemüsegärten und Ziegen- und Gänsegehegen.

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Der Clou an diesem Dorf: Schauspieler verkörpern die historischen Personen. Sie tragen die 1620er Mode, gehen den alltäglichen Arbeiten nach (Zäune reparieren, flicken, kochen, Kühe hüten usw.) und stehen den Besuchern Rede und Antwort. Dabei spielen sie ihre Rolle zu 100 % und spiegeln die damalige Denk- und Lebensart wider. Ein Dorfbewohner begrüßt uns mit einem “Good day” und lädt uns in seine Hütte ein. Er trägt einen dichten Vollbart und ich beneide ihn an diesem Tag um seine dicken Wollstrümpfe, die er bis zu den Knien hochgezogen hat. Rauschebart beschwert sich im herrlichsten britischen Akzent über den Mangel an Bier: “Wir haben kein Vieh, um Felder zu bewirtschaften, keine Möglichkeit Bier zu brauen. Alles,was wir hier haben ist Wasser. Und jeder weiß doch, dass Wasser nicht nahrhaft ist.” Dann belehrt er mich, dass ich meinem Baby doch bald Bier zu trinken geben sollte. Das mache stark. In ihrer alten Heimat hätten das alle Mütter gemacht. Als ich ihm erkläre, dass sie Kuhmilch bekommt, schüttelt er angewidert und erstaunt den Kopf: “Komische Sitten. Kuhmilch ist für die Kälber da. Dein Baby trinkt das??” Und dann referiert er weiter über die Weiber, die sich ihren Männer nicht unterordnen wollen. Dabei steht es doch klipp und klar in der Bibel, dass sich das Weib dem Mann unterzuordnen habe. Ich verkneife mir die Bemerkung, dass es heißt, dass sich beide einander unterordnen sollen…..Er schüttelt resigniert mit dem Kopf, als jemand der Besucher ihn fragt, ob das junge Mädchen neben ihm seine Frau sei. “Ich wünschte, meine Frau wäre so still wie sie.”

In einer anderen Hütte dagegen erklärt gerade eine ältere Frau in holländischer Tracht einigen Kindern, wie wichtig es sei, dass auch die Mädchen Lesen und Schreiben lernten. Auch wenn einige Männer das nicht gerne sähen. Wir kommen mit ihr ins Gespräch. Sie sitzt vor einem prasselnden Feuer und lädt uns ein, uns dazuzusetzen. In den deutschen Staaten herrsche ja gerade ein erbitterter Religionskrieg, schon seit neun Jahren, so erkundigt sie sich.Wir steigen in dieses “Spiel” ein und seufzen: “Ja, wir hoffen, er dauert nicht mehr allzu lange” (Sind dann doch dreißig Jahre geworden…).

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Das Themen Religion und Nahrungsbeschaffung sind vorherrschend. Und mit den Indianern, die hier in der Gegend leben, kommt man gut klar. Man treibt Handel miteinander und lernt voneinander.

Die Dorfbewohner spielen ihre Rolle nicht, sie leben darin. Und sind dadurch so überzeugend, dass man sich manchmal direkt kneifen muss, ob man nicht doch per Zeitreise plötzlich im Jahr 1620 gelandet ist.

Der Weg aus dem Dorf zurück ins Besucherzentrum führt durch ein nachgebautes indianisches Dorf der Wampanoag, die hier früher lebten und hauptsächlich von der Landwirtschaft und vom Fischfang lebten. Eine Tafel begrüßt uns: “Bitte vermeiden Sie Klischees!” Wir sollen nicht das Wort “Indians” verwenden. Und die Einwohner nicht mit “How” begrüßen. Mit solchen und weiteren Ermahnungen werden wir belehrt.

Hier stehen Nachfahren der Wampanoag den Besuchern Rede und Antwort. Alles, was vorher spielerisch und auch ein bisschen amüsant war, wird hier schwer und distanziert. In einem großen Zelt sitzt ein sogenannter “Native” am Feuer und erzählt uns über die Lebensweise seiner Vorfahren. Ich bin plötzlich ein bisschen scheu. Die Lebensweise der ersten Siedler ist mir vertrauter. Hier fühle ich mich als Weiße, als Eindringling. Trotzdem löchere ich unseren Indianernachfahren mit Fragen. Muss aber ständig aufpassen, eben nicht Indianer zu sagen. Oder Squaw. Oder Chief. Politische Korrektheit ist anstrengend. Aber in diesem Fall auch nachvollziehbar. Wenige Jahre nach Ankunft der Siedler waren die meisten der Einheimischen Seuchen und kriegerischen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen.

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Ich will ihn unbedingt davon überzeugen, dass ich auf “seiner” Seite stehe. Und bin dabei total unbeholfen: “Als Kinder haben wir immer Cowboy und Indianer gespielt. Und ich wollte immer Indianer sein. Die waren soviel cooler.” Gott, wie peinlich. Armin verschärft die Situation: “Ich wollte lieber Cowboy sein, die hatten die Knarren.” Als hätte jemand einen riesigen Fettnapf mitten ins Zelt gestellt und wir springen hinein.

How!

So, nun ist es spät geworden. Ich hau mich aufs Ohr. Morgen ist Packen angesagt. Und Abschied nehmen.

Ein Kommentar zu „Geschichte einatmen

  1. Liebe Familie Smoor!
    Ich werde Ihre originellen und interessanten Reiseberichte bestimmt vermissen… Aber ich freue mich mit Ihnen, dass alles bis zum Schluss so gut verlaufen ist (auch über den tollen “Solo-Tag” der Mama, – ein dickes Lob auch dem einsatzbereiten Papa und Amelie, die klasse durchgehalten hat und so ein Sonnenschein war!).
    Nun einen bewahrten Rückflug und ein gutes Einleben wieder “im Ländle”,
    herzlichst,
    Susanne Walter

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